Wir schreiben 1993 – das Erscheinungsjahr von Und täglich grüßt das Murmeltier. In diesem Hollywood Blockbuster muss der egozentrische Fernseh-Wetterreporter Phil Conners den ihm so verhassten "Murmeltier-Tag" (jedes Jahr am 2. Februar) in der amerikanischen Kleinstadt Punxsutawney immer und immer wieder erleben.

Er befindet sich auf wundersame Weise in einer Zeitschleife gefangen: Egal, was er auch anstellt, er wacht am nächsten Morgen immer wieder in Punxsutawney auf, um das Murmeltier Phil bei seiner animalischen Wettervorhersage zu moderieren. Wenn Wetterprophet Phil nun seinen eigenen Schatten sieht und sich wieder in seinen Bau verkriecht, dann ist für weitere sechs Wochen Winter angesagt – bleibt Phil allerdings standhaft, dann steht der Frühling vor der Tür.

Diese radikale Variante der Selbsterfahrung bringt Reporter Phil, begleitet durch seinen tierischen Namensvetter, an den Rand des Nervenzusammenbruchs und darüber hinaus. Obwohl natürlich ein Happy End programmiert ist, muss der zu läuternde Phil bis zur Erlösung zahlreiche Untiefen durchwaten.

Die Freizeitpanier

Fast achtundzwanzig Jahre später steht nun seit mittlerweile rund zehn Monaten ein großer Teil der Weltbevölkerung vor der wenig erquicklichen Aufgabe, sich gefangen in den eigenen vier Wänden tagtäglich mit dem eigenen Schatten konfrontieren zu müssen. Verantwortlich dafür ist allerdings nicht eine ominöse Zeitschleife oder Murmeltier Phil, sondern viel wahrscheinlicher ein namenloses Schuppentier oder auch eine Fledermaus, welche als Überträger des Coronavirus auf den Menschen, also als Auslöser für die Covid-19-Pandemie gelten dürfen. Als Ort des Geschehens darf dabei auch nicht die malerische Kleinstadtidylle von Punxsutawney, sondern das plärrende Elend eines Wildtiermarktes im chinesischen Wuhan genannt werden.

Quarantäne, Lockdown, Homeoffice und Co: gesunde Entschleunigung im bequemen Hausanzug – oder doch eine Frage für Psychopathologen?
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Für viele Menschen ist das Ergebnis aber ein ähnliches: Anstatt mit der wilden Frische von Limonen hip gestylt in den Tag zu starten, bleibt nur der fußmarode Gang zur Freizeitpanier bzw. bleibt man gleich im Nachthemd oder Pyjama, um den restlichen Tag im Hausarrest des Homeoffice zu verleben. Einschränkend muss natürlich an dieser Stelle festgehalten werden, dass diese nie zuvor erlebte Form der Entschleunigung beileibe nicht von allen Menschen genossen werden kann – die Belastung in den sogenannten systemerhaltenden Berufen nahm noch gehörig zu.

Das Du und die Bindung

"Das Ich wird am Du zum Ich" urteilte der Religionsphilosoph Martin Buber in einem seiner bekanntesten Werke Ich und Du. Dementsprechend bildet der Mensch seine Identität vornehmlich in Relation zu seiner Umgebung aus. Erst in der zwischenmenschlichen Begegnung mit dem Gegenüber, dem Du in der Ich-Du-Beziehung, oder mit der dinglichen Welt (Ich-Es-Beziehung) wird eine Abgrenzung des Ich von seiner Umwelt ermöglicht.

Obwohl das Buch von Buber bereits im Jahr 1923 publiziert wurde, lässt sich der Grundgedanke dieses Werks ohne große Sprünge im Hier und Jetzt der aktuellen Bindungsforschung wiederfinden, welche auf den britischen Psychoanalytiker John Bowlby zurückgeht. Laut Bowlbys Bindungstheorie formen Menschen schon im frühen Kleinkindalter auf der Basis von nahen Bezugspersonen repräsentationale Systeme aus, die Bowlby "Inner Working Models" (innere Arbeitsmodelle) nennt.

Diese bilden sich in mentalen symbolischen Repräsentanzen ab und bestimmen auch im späteren Erwachsenenalter die Erwartungen bezüglich unterschiedlicher sozialer Interaktionen. Dementsprechend können Menschen sichere oder eben unsichere Bindungsmuster aufweisen, die im Umgang mit ihren Mitmenschen wirksam werden. Sicher gebundene Menschen erleben sich selbst als wertvoll, und demnach spielen sich auf ihrer inneren Bühne Szenen ab, die durch eine positive Beziehungserfahrung mit dem Gegenüber geprägt sind. Unsichere Bindungsmuster wirken sich negativ auf die antizipierte Beziehungsqualität aus, und damit dürfen diese auch als Prädiktoren für eine defizitäre Persönlichkeitsentwicklung oder auch für die Entstehung einer psychischen Erkrankung gelten.

Die Folgen

Der Mensch darf somit als Beziehungswesen gelten, welches nach tragfähigen Bindungen strebt. Das Erleben von sozialer Distanz und Isolation oder Einsamkeit führt demnach auch vermehrt zu depressiv-ängstlichen Zuständen oder auch zu süchtigem Verhalten. Cyber(psycho)therapeutische Interventionen, zum Beispiel in Form von Chats oder Meetings, können dabei nur bedingt Abhilfe schaffen.

Und doch erscheint zum Jahresausklang neben der Corona-Impfung ein weiterer Hoffnungsschimmer am Horizont: Nach dem herzigen Babyelefanten aus dem Jahr 2020, der noch "Abstand halten" eingemahnt hat, ist laut gängiger psychologischer Fachliteratur für 2021 "Verbundenheit" als neue oder besser wiederentdeckte Form der Wert- und Geisteshaltung angesagt.

Allerdings, bei so viel neuer oder eben eventuell wieder gewonnener Herzlichkeit wartet auch hier das psychopathologische Gespenst spätestens am Ende des Kontinuums: So darf die Distanzlosigkeit laut Psychologie-Onlinelexikon als "nicht angemessenes Verhalten, in der eine nicht passende Nähe und Vertraulichkeit aufgebaut wird und konventionelle Normen nicht eingehalten werden", gelten. Diese (Un-)Art der Kontaktaufnahme kann dann als Symptom einer Manie, einer Bindungs- oder Persönlichkeitsstörung psychiatrische Relevanz besitzen. Zurück im Bereich der Psychopathologie des Alltags wird Distanzlosigkeit oftmals auch als Taktlosigkeit, sogar als Impertinenz empfunden.

Frühlingsgefühle

Der "Murmeltier-Tag" wird in Punxsutawney in schöner Tradition abgefeiert. Der Legende nach ist Nagetier Phil unsterblich und kann damit möglicherweise als eine putzige Variante eines Naguals (ein aus der mesoamerikanischen Mythologie stammender Schutzgeist, der meist in Gestalt eines Tiers oder einer Pflanze auftritt und sich dem Menschen sehr verbunden fühlt) enttarnt werden.

Aus profan-zoologischer Perspektive betrachtet, werden Murmeltiere nicht älter als 15 Jahre, und es dürfte sich bei Phil ähnlich wie bei Kommissar Rex in etwa um die achte Generation handeln. So oder so: Aus jetziger Perspektive betrachtet, braucht man wahrscheinlich wirklich ein Murmeltier mit hellseherischen Fähigkeiten, um einschätzen zu können, ob das heimtückische Coronavirus der Menschheit noch ein paar Monate des sozialen Winterschlafs im heimeligen Lockdown bescheren wird oder aber doch so etwas Ähnliches wie Frühlingsgefühle im Einklang mit dem Schmelzen des Schnees (und der Gletscher) zelebriert werden können.