Die Extrovertierte

Die Künstlerin Brunilda Castejón hat zu den abstrakten Kurzporträts von Tanja Paar Aquarelle aus Kaffee und Rotwein geschaffen.
Illustration: Brunilda Castejón

Sie ist als Kind in den Zaubertrank gefallen. Sie hat es überlebt, aber seither ist sie anders: Sie strahlt. Sie bezaubert jede Gesellschaft. Sie strahlt auf andere ab. Selbst wenn sie nicht gut gelaunt ist, was selten vorkommt, strahlt sie. Schwierig ist das nur, wenn sich jemand anderes für die Sonne hält. Ihr ist das egal. Sie ist sich sicher. Nur unsichere Charaktere schätzen ihre Wärme nicht. Sie misstrauen ihrer Großmut. Dabei ist sie echt. Sie ist mitfühlend und ehrlich interessiert. Sie passt sich ihrer Umgebung an. Sie wechselt ihren Duktus wie andere ihre Socken. Sie ist eloquent, aber sie kann auch schweigen. Ihre Kraft verschüchtert Neider. Sie kann nicht anders. Sie ist in den Zaubertrank gefallen.


Der Verwöhnte

Illustration: Brunilda Castejón

Er ist Erbe. In jungen Jahren war er bereits versorgt, als Student Besitzer einer Immobilie. Nie hätte er sie selbst erwirtschaften können mit seinem abgebrochenen Studium. Daneben Gelegenheitsjobs. Am Wochenende immer zu den Schwiegereltern in spe mitsamt dem Sack mit der Schmutzwäsche. Eingetauscht gegen eine Tasche mit Lebensmitteln. Immer war alles da – gut und reichlich. Auch als die Ehe zerbrach. Wo die falsche Abzweigung genommen? Zweiter Versuch, diesmal mit Kind. Alles, alles für den Nachwuchs die späten Eltern. Den Haushalt macht natürlich sie, mit der Gleichberechtigung ist es vorbei seit der Geburt. Wer hat die Titten? Wer hat die Eier? Er. Er ist der Erbe. An welcher Stelle falsch abgebogen? Bei: Das Kind soll nicht geimpft werden. Oder: Corona, das ist eine Erfindung der Mächtigen?


Der Schreckliche

Illustration: Brunilda Castejón

Er ist ein alter Depp, und seine Hinfälligkeit täuscht. Weil er kaum mehr gehen kann, keucht und schlecht sieht, tritt sein mieser Charakter in den Hintergrund. Als Greis regt er zum Mitleid an. Man möchte ihn stützen, ihm die Türe aufhalten, beim Treppensteigen helfen. Beim Reden klappert sein Gebiss, er kann schlecht kauen. Ergreift er das Wort, schimmert sofort etwas von seiner einstigen Schrecklichkeit durch. Er war gewalttätig und ist es noch immer: mit seinen Mitteln. Er lässt sich nichts sagen, sein Wort ist Gesetz. Ja, mehr noch, er stellt sich über das Gesetz. Er weiß, dass er jetzt schwach ist, aber er vergisst es im rechten Moment. Er zählt auf seine Schrecklichkeit. Und wirklich: Keiner widerspricht ihm. Er ist ein gewalttätiger Greis. Wer wagt es, ihm den Tod zu wünschen?


Das alte Ehepaar

Illustration: Brunilda Castejón

Das alte Ehepaar genügt einander. Es wird sich nicht optisch immer ähnlicher, aber die Gewohnheiten schleifen einander ab. Der kleinste gemeinsame Nenner wird das größte gemeinsame Vielfache. Die Mathematik des Alterns will es so. Sie ist Frühaufsteherin und er Langschläfer, aber das macht nichts. So hat sie einen Vorsprung, den er den Rest des Tages aufholen kann. Er läuft erst nachts zur Hochform auf, wenn sie schon schläft, so kommen sie einander nicht in die Quere. Beide gewöhnen sich seit Jahren das Rauchen ab. Der Vorteil: Immer hat wer eine Zigarette, er oder sie. Sie sind nachsichtig miteinander und streng nur mit sich selbst. Sie bilden einen Eheraum, in den niemand anderer vordringen kann. Sie existieren ohne einander, aber sie kehren Tag für Tag in ihre Ehehöhle zurück. Die Höhle hat keine Fenster außer den sozialen Medien. Durch die bestaunen sie die Welt. In der Einschätzung dieser Außenwelt sind sie sich einig. Nicht immer, aber immer öfter.


Die Verhuschte

Illustration: Brunilda Castejón

Sie ist freundlich, aber unbestimmt. Nie bekommt man sie auf den Punkt. Immer will sie sich alles offen lassen. Die Welt ist groß, selbst jetzt, wo wir nicht hinaus dürfen, nicht reisen. Aber der Bildschirm! Die Devices! Immer so viele Möglichkeiten! Sich nicht festzulegen bedeutet jung zu sein. Wer von den Jungen legt sich schon fest? Wer trifft eine Verabredung für den übernächsten Tag zu einer fixen Uhrzeit? Wer für den nächsten? Alles bleibt volatil. Wir schwimmen mit starken Armstößen durch unverbindliche Kontakte. Schauen wir, was der Tag bringt, was die Stunde. Mit einem Wisch am Display bist du weg.


Die Hauptsache-Wir

Illustration: Brunilda Castejón

Wir alle müssen verzichten. Aber dass in Zeiten wie diesen wegen ein paar Alten, die sowieso sterben müssen, alles still steht. Die Arbeitslosen! Die kleinen Gewerbetreibenden! Die Schüler und Schülerinnen, die Alleinerziehenden. Dabei gibt es eine Untersterblichkeit. Was macht es, wenn die Alten – sagen wir einmal – nur mehr am Mittwoch zwischen acht und neun in der Früh zum Friseur gehen dürfen? Das wird wohl zumutbar sein? Die Schulen müssen offenbleiben! Die Gesundheit zukünftiger Generationen. Aber die Alten? Wer liegt, sollte kein Intensivbett mehr bekommen, verstehst du? Die liegen ja schon. Die stehen nicht mehr auf. Oder zumindest die ganz Alten.

Ab welchem Alter, denkst du?

Ab 65 zum Beispiel, also die in Pension sind, können zu Hause bleiben.

Die in Pension sind? Warum die in Pension?

Zum Beispiel ich. Ich bin in Pension, aber fit. Topfit. Mich betrifft das nicht. An allem darf man sterben heute, nur nicht an Corona.


Die Gehzurück

Illustration: Brunilda Castejón

Es fängt harmlos an: Zu Beginn muss die Gehzurück nur einen Blick werfen. Sich mit einem Blick vergewissern, dass der Herd aus ist, bevor sie das Haus verlässt. Dann zieht sie entschlossen die Tür hinter sich zu. Bald schon aber zögert sie. Sie ist sich sicher, dass der Herd aus ist, aber sie muss trotzdem umkehren und abermals kontrollieren. Kein rotes Licht. Der Herd ist aus. Manchmal muss sie drei Mal nachsehen. Hat jemand anderer den Herd in Funktion genommen? Der Mann? Das Kind? Kann sie sich auf die anderen verlassen? Sicher! Trotzdem muss sie nachsehen. Sie lächelt. Aber sie weiß, wie es weitergeht. Den Herd kontrollieren, gehen, umkehren, kontrollieren, gehen, umkehren, kontrollieren. Sich auf die Bank setzen. Nur durchs Hinsetzen kann der Zwang durchbrochen werden. Das wusste schon die Großmutter.


Die Wahrheitsdreherin

Illustration: Brunilda Castejón

Sie meint das Beste. Sie meint das Beste für sich. Also dreht sie die Wahrheit ein kleines Stück. Wie ein winziges Rädchen dreht sie die Wahrheit vor ihrem Auge, alles eine Frage der Perspektive. Sie lügt nicht, sie rückt zurecht. Oft sind es nur wenige Millimeter, derer es bedarf. Sie hat ein klares Ziel vor Augen, sie weiß, wo sie hinwill. Also trägt sie ihre Sache bedächtig vor, rückt sie ins rechte Licht. Meist sind Zweite und Dritte involviert. Dieser habe jenes vor, sagt sie jenem. Dieser weiß gar nichts davon, aber er wird es erfahren, wenn jener erst davon überzeugt ist. Die Wahrheit ist auch eine Frage der Zeit. Manchmal dreht die Wahrheitsdreherin ein bisschen am Vorher und Nachher. Was macht das schon, wenn sich doch eines ins andere fügt nach ihrem Geschmack? Die Wahrheitsdreherin ist weit gekommen. Sie ist zufrieden. Die Wahrheit liegt ihr weich in der Hand. Am Ende sind alle zufrieden. Und wenn schon nicht alle, dann sie.


Die Überallemaßen

Illustration: Brunilda Castejón

Sie ist der Umwelt freundlich gesinnt. Überall entdeckt sie Gutes, sie muss sich nicht einmal anstrengen dabei. Anstrengung ist ihr ein Graus. Es darf leicht gehen. Das Leben hat es ihr einfach gemacht, und sie hat kein schlechtes Gewissen. Warum auch? Sie hat es verdient. Sie war ein geliebtes Kind. Das war ein guter Start. Sie ist Kind geblieben. Erwachsen zu werden war niemals notwendig. Damit andere sie nicht zu sehr beneiden, hält sie das verborgen. Sie ist intelligent genug zu begreifen, dass es nicht allen so gut geht wie ihr. Sie hilft, wo sie kann. Wenn sie sich nicht zu sehr anstrengen muss dabei. Ihre Hilfe geht leicht von der Hand. Sie ist eine gute Zuhörerin. Ihre Begeisterung ist maßlos und steht in keiner Relation zu den Ereignissen. Schon eine einfache Pizzaschnitte schmeckt ihr über alle Maßen gut. Sie kann es sich leisten.


Die Beleidigte

Illustration: Brunilda Castejón

Die Beleidigte ist schön. Sie weiß um ihre Schönheit und ist beleidigt, dass diese nicht mehr gewürdigt wird. Die Beleidigte ist nicht mehr jung. Sie will trotzdem im Mittelpunkt stehen, ohne sich anzustrengen. Sie wirkt zurückhaltend. Ihre Schönheit spricht. Sie gibt sich dienstfertig. Sie möchte für fleißig gehalten werden. Ihr ist wichtig, dass nicht nur ihre Schönheit zählt. Sie ist klug. Sie legt aber mehr Wert auf ihr Äußeres. Ihre Klugheit schimmert durch den Panzer ihrer Schönheit. Sie handhabt den Besen wie den Lippenstift. Elegant. Sie hätte es weit bringen können. Das muss uns im Umgang mit ihr immer klar sein. Das ist wichtig. Sie ist hinter ihrem Talent zurückgeblieben. Sie hat es zugunsten ihrer Schönheit geopfert. Ihre Schönheit hat ihre Karriere verhindert. Dafür hat sie schöne Kinder und einen wohlhabenden Mann. Aber sie ist klug. Manchmal hadert sie mit ihrer Ambitionslosigkeit. Sie weiß um ihre verspielten Möglichkeiten. Deswegen ist sie beleidigt auf die Welt, die es ihr zu leicht gemacht hat.

(Tanja Paar, Brunilda Castejón, ALBUM, 10.1.2021)