Ein Film, der nicht mit Emotionen geizt: Vanessa Kirby in Kornél Mundruczós und Kata Wébers Familiendrama "Pieces of a Woman".

Foto: Netflix

Das Ehedrama Pieces of a Woman, in dem ein Paar nach dem Geburtstod seines Kindes auseinanderdriftet, gehörte zu den Höhepunkten des Filmfestivals Venedig im Herbst. Der Film wurde prompt von Netflix gekauft, wo er nun gerade neu streambar ist. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó und seine Frau und Drehbuchautorin Kata Webér sind in Österreich auch durch ihre Theaterarbeit bekannt. Ein Gespräch über ihre erste englischsprachige Produktion, die die Frucht einer Verschränkung mehrerer Disziplinen ist.

Netflix

STANDARD: "Pieces of a Woman" wurde ursprünglich in Warschau als Theaterstück umgesetzt. Wie ist daraus ein US-Film entstanden, für den dann sogar Martin Scorsese als ausführender Produzent fungiert?

Mundruczó: Begonnen hat es damit, dass sich der ungarische Filmfonds aus dem Projekt zurückzog. Also habe ich das Skript einem befreundeten US-Produzenten geschickt. Er war begeistert, weil es so ein persönlicher Stoff ist. Scorsese hat dann über den Komponisten Howard Shore den Rohschnitt zu sehen bekommen. Ich habe wochenlang nichts gehört und mir schon gedacht, er hat eben keine Zeit. Dann rief sein Assistent an: Marty würde den Film lieben. So ist er zum Team gestoßen – das ist für uns natürlich ein großartiges Label.

STANDARD: Das Thema Geburt und Kindstod ist von viel Ideologie umrankt. Wie wurde diese intime weibliche Perspektive entwickelt?

Mundruczó: Das ist eine Erfahrung, die Kata und ich selbst austragen mussten, wenngleich auf andere Weise als im Film. Ich wusste, dass dieses Thema viele Fragen anstößt, die man gerne umgeht.

Wéber: Es gab auch den Fall einer ungarischen Hebamme, die nach dem Tod eines Kindes vor Gericht gebracht wurde. Daraus erwuchs eine politische Auseinandersetzung, die extrem polarisierte. Wessen Schuld war es? Sollen Hausgeburten überhaupt erlaubt sein? Jede dieser Geschichten ist einzigartig. Was sie gemeinsam haben, ist die Erfahrung der Isolation.

STANDARD: Was hat sich mit der Übertragung des Stoffs in die USA geändert? Diese Kompensationskultur, also die Frage, ob man Schadensersatz durchsetzen will, erscheint mir als sehr amerikanisch.

Mundruczó: Wir mussten Budapest woanders finden! Allerdings schien mir diese Idee von Kompensation nicht so weit weg von unserer Kultur zu sein. Wenn man so wie Martha auf diesen Weg verzichtet, weil man es ablehnt, das Vorgefallene auf diese Art zu messen, dann wäre das auch in Ungarn ein mutiger, unkonventioneller Schritt. Aber wir wollten keineswegs im Atlantik versinken, es gibt kulturelle Unterschiede. Das ist eigentlich immer so: Wenn ich in Deutschland arbeite, dann will ich deutsches Theater machen, kein ungarisches. Das wäre dumm.

Regisseur Kornél Mundruczò mit Vanessa Kirby und Ellen Burstyn am Set.

STANDARD: Weil das Spezifische sonst verlorengeht?

Mundruczó: Ja, man will so präzise wie möglich ein. Wenn man eine Geschichte in eine andere Kultur überträgt, wird diese von selbst universeller. Die neue Kultur hinterfragt alles noch einmal. Worauf kann man verzichten? Man formuliert um, und daraus wird der Stoff auch allgemeiner.

STANDARD: Der Tod des Kindes lässt auch die Unterschiede des Paares hervortreten. Shia LaBoeuf geht als Mann aus der Arbeiterklasse anders damit um: praktischer, ruppiger.

Wéber: Für Shias Figur empfinde ich sehr viel. Ich wollte ihn aber zu einem Außenseiter der Familie machen. Er ist nicht intellektuell, aber Martha findet bei ihm ein Zuhause, Wärme und Leidenschaft. Das ist etwas, was in ihrer Familie fehlt. Mir war wichtig, dass es eine Familie von Holocaust-Überlebenden ist. Martha ist dritte Generation, ihr wurde eingetrichtert, dass sie perfekt sein muss. In diesem Fall hilft ihr das nicht, denn sie scheitert, und der beste Weg, damit umzugehen, ist, einen eigenen Weg zu finden und keine Rache zu nehmen. Und aus meiner jüdischen Vergangenheit stammt die große Frage, was man an die Nachwelt weitergibt.

STANDARD: Der Film ist naturalistischer als frühere von Ihnen, vor allem die Geburtsszene zu Beginn ist ein unglaublich fordernder Teil, fast ein Stück Cinéma vérité ...

Mundruczó: Ja, sie wurde in einem Stück gedreht, ohne jeden Fake-Schnitt. Ich war ja nie ein Regisseur, der nach einem Stil gesucht hat. Andere, die das können, bewundere ich dafür. Ich empfand die Geschichte hier als provozierend, sodass es nicht noch einer provozierenden Form bedurfte. Ich versuchte, einen spirituellen Zugang zu finden: Wie kann ich die Präsenz von Verstorbenen darstellen? Die Kamera musste sehr fließend sein, spirituell in dem Sinn, dass sie menschlich, aber eben nicht persönlich wirkt.

STANDARD: Sie arbeiten viel am Theater, 2019 haben Sie einen "Liliom" bei den Salzburger Festspielen gemacht, demnächst inszenieren Sie Wagner. In "Pieces of a Woman" gewinnt man den Eindruck, dass Sie diese Erfahrungen auch filmisch nutzen.

Mundruczó: Immer mehr, das ist tatsächlich interessant. Davor dachte ich stets, ich sei ein Filmemacher auf der Bühne. Ich fühle mich als Filmemacher, das ist meine Identität. Aber auf der Bühne kann man, zumindest momentan, radikaler sein. Davon kann man etwas hinüberstehlen. Mir waren auch zwei Maler wichtig, Lucian Freud und Balthus. Sie sind durch einen klassischen Zugang verbunden, der ihnen etwas Unerhörtes verleiht. Sie entsprechen dieser unsichtbaren Form. Diese angeberischen Attitüden von Regisseuren liegen mir nicht.

STANDARD: Vanessa Kirby ist fantastisch als Martha. Hat es Anpassungen an ihren Schauspielstil bedurft?

Wéber: Wir haben vieles im Ensemble entwickelt. Vanessa spielt die Trauer wie eine Rüstung, die ihr Schutz vor der Kälte der Familie verleiht.

Mundruczó: Diese Methode-Acting-Ansätze sind gar nicht so entfernt von unserer Theaterkultur. Mich hat beeindruckt, wie viel von sich selbst sie investieren. Der Film liefert eher ungewohnte Blicke auf die Schauspieler. Man sieht Shia sonst nie als normalen Ehemann. Er ist ja meistens ein Extremist auf der Leinwand. (Dominik Kamalzadeh, 9.1.2021)