Die Vorstellung, dass Krankheit dem "Karma" zuzuschreiben sei, dass sie reinige und persönliches Wachstum ermögliche, ist in esoterischen Kreisen weit verbreitet.

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Mitte Jänner wird in München ein "Friedensfest" gefeiert: Kritiker*innen der Corona-Maßnahmen treffen sich zur Open-Air-Meditation, es sei ein "friedlicher Aufruf zum Beschützen unserer Freiheitsrechte", schreiben die Veranstalter*innen. Seit gut einem halben Jahr wird auf dem Marienplatz getanzt und meditiert, "Ordner-Engel" sorgen für Sicherheit. Auf der Website der Initiative zeigen dutzende Bilder lächelnde Menschen im Schneidersitz, "You can’t quarantine love", hat jemand auf ein Plakat gemalt.

Wer die Corona-Maßnahmen hinterfrage, werde sofort ins rechte Eck gestellt, klagt Initiatorin Graciette Justo in einem Videobeitrag. Dabei sei die Magic-Monday-Meditation weder links noch rechts, sondern eine "Menschheitsfamilie", ist online zu lesen. Dass die rechtsextreme und die esoterische Szene durchaus Schnittmengen aufweisen, zeigten jüngst die Querdenker-Demos, wo "spirituelle" Aktivist*innen gemeinsam mit Identitären marschierten. Und dennoch: Esoteriker*innen seien keineswegs per se rechts, sondern auch im linken und grünen Milieu anzutreffen, sagt Ansgar Martins, Religionswissenschafter an der Goethe-Universität Frankfurt. "Die gemeinsame Klammer ist eine ausgeprägte Technik- und Wissenschaftsskepsis, die Gegenwart, speziell das Verhältnis der Menschen zur Natur, wird als große Krise erlebt", sagt Martins.

Erleuchtetes Instagram

Die Suche nach einem Leben im Einklang mit der Natur, nach Sinn und einem authentischen Selbst ist längst ein boomendes Geschäft. Unzählige spirituelle Coaches bieten als Einzelunternehmer*innen ihre Dienste an, sie veranstalten Yoga-Retreats und leiten in Frauenkreisen zur Wiederentdeckung der Weiblichkeit an. Die Pandemie hat bei vielen für massive Einkommensverluste gesorgt, gecoacht und meditiert wird zunehmend aber auch im Netz. Wer durch die spirituelle Blase auf Instagram scrollt, stößt schnell auf heftige Kritik an der Corona-Politik. Nutzer*innen posten Fotos ihrer Kinder mit Maske, um diese "unnatürliche" Maßnahme anzuprangern, es ist die Rede von einer Panik-Gesellschaft und einer Zeitenwende. Aber auch abstruse Theorien zu Krankheit tauchen immer wieder auf. "Ich weiß, dass der Coronavirus nicht die eigentliche Bedrohung ist. Ich bin dahingehend komplett angstfrei – weil ich mich jahrelang mit den Ursachen von Krankheiten beschäftigt habe", schreibt Sarah, die sich als "Visionärin" bezeichnet und unter knallbunten Schnappschüssen von ihrer Reinkarnation berichtet.

Unsolidarische Selbstfürsorge

Die Vorstellung, dass Krankheit dem "Karma" zuzuschreiben sei, dass sie reinige und persönliches Wachstum ermögliche, ist in esoterischen Kreisen weit verbreitet. Aber auch die Kontrolle über die eigene Gesundheit steht hoch im Kurs. Unzählige Accounts widmen sich einer gesunden Ernährung, die stärke und heile und oft (roh-)vegan ist. Jeder Bissen zählt, so der Tenor. Ein prominenter Vertreter der "heilenden Ernährung" ist der Arzt und Esoteriker Rüdiger Dahlke, in seinem Buch "Peace Food" erklärt er, "wie der Verzicht auf Fleisch und Milch Körper und Seele heilt". Krankheit sei stets eine Krankheit der Seele und somit selbst verursacht. Eine Haltung, die in der Pandemie wenig Raum lässt für Solidarität mit vulnerablen Gruppen.

Wenig verwunderlich, dass Dahlke auch das Coronavirus verharmlost. Statt zu impfen, müsse jetzt das Immunsystem gestärkt werden – unzählige Influencer*innen machen vor, wie das mit täglichen Yogaübungen und pflanzlicher Kost möglich sei.

Wer sich selbst unter Kontrolle hat, braucht keine Rücksicht auf andere zu nehmen, so die Botschaft mancher Esoterik*innen. "Wer sich zurück in die natürliche Gesundheit begibt, der wird Corona niemals fürchten müssen! Alle anderen (...) können nicht erwarten, dass ihre Mitmenschen ihr Leben ruinieren, um für sie eine Vakuum-Blase zu erschaffen", postet die "Familie Glücklich", ihr Account zeigt fröhliche Bilder einer Weltreise.

Frauenbranche Esoterik

Auffallend viele Accounts inszenieren ihr Familienleben, meist sind es Mütter, die als Managerinnen des familiären Wohlbefindens auftreten. "In den meisten Hetero-Familien sind nach wie vor Frauen für die Sorgearbeit zuständig, das betrifft auch die Gesundheit", sagt Bettina Zehetner, Beraterin bei Frauen* beraten Frauen*. Traditionell seien es die Mütter, die Arzttermine organisieren und in Pflegeurlaub gehen – hier wirke das Stereotyp der fürsorglichen und liebevollen Frau besonders stark. Dass Frauen wiederum in der Esoterik stark vertreten sind, führt Zehetner auch auf reale Erfahrungen mit der Schulmedizin zurück. So zeigt nicht nur ein Blick in die Geschichte die Pathologisierung weiblicher Erfahrungen: Nach wie vor werden Schmerzen von Patientinnen weniger ernst genommen, wie Untersuchungen belegen. Doppelt so häufig als Männer haben Frauen in Deutschland bereits einen alternativen Therapieansatz wie Akupunktur oder Schüßlersalze ausprobiert, so eine repräsentative Umfrage im Auftrag der "Apotheken Umschau".

"Wenn man dann in Verschwörungserzählungen abgleitet, ist das in gewisser Hinsicht auch bequem", sagt Bettina Zehetner. "Da wird eine abstrakte Macht oder die allmächtige Pharmaindustrie angenommen, gegen die man eh nichts ausrichten kann. Es ist viel mühsamer, sich mit den realen politischen Verhältnissen – auch in der Familie – auseinanderzusetzen."

Auch wenn vermeintliche Fernheilungen und Schutzkristalle aktuell für Schlagzeilen sorgen – dass die Esoterik in der Pandemie einen nie dagewesenen Boom erlebe, hält Religionswissenschafter Martins für einen Trugschluss. "Wir sprechen seit den 90ern von einem Esoterik-Boom, ich denke, diese Wahrnehmung entsteht, weil sie so ein wimmelndes Feld ist, in dem quasi jeder seine Privatreligion hat." Angesichts einer globalen Gesundheitskrise stellen sich jedoch spezifische Probleme: etwa wenn Falschinformationen verbreitet werden oder Impfgegner*innen in Mütter-Foren aggressiv um Mitstreiterinnen werben. Mit dem zunehmenden Druck auf Facebook und Co sind die Social-Media-Plattformen mittlerweile auch in Sachen Verschwörungstheorien aktiv geworden. Instagram entfernte zahlreiche Hashtags radikaler Impfgegner*innen und blendet Links zur WHO ein, YouTube löscht zunehmend Videos, die mit unseriösen Inhalten gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen.

Trügerische Freiheit

Dementsprechend sind auch Nutzer*innen mit großem Publikum vorsichtiger geworden. Sarah Schmid, die mit Alleingeburten im eigenen Garten auf YouTube bekannt wurde, kritisiert aktuell die Maskenpflicht ebenso wie "staatliche Kontrolle", sie spricht vom "C-Wort", um einer drohenden Löschung zu entgehen, die sie bei anderen Vlogger*innen beobachtet habe. Auch als Impfgegnerin tritt die Influencerin und laut eigenen Angaben ausgebildete Ärztin auf. Ihre Kinder sind "Freilerner", in der Schule werde nur nachgeplappert und kein kritisches Denken gelehrt, ist Schmid überzeugt. Auffallend viele Mütter und Familien, die um die Welt reisen und ihre Kinder selbst unterrichten, finden sich unter esoterischen Influencer*innen. Fotos zeigen eine vermeintlich heile Welt beim Kinderyoga und bei Strandspaziergängen, die "einengende" Welt von Bürojobs und Schulen haben sie hinter sich gelassen. Ihr neues Leben bringe wahre Freiheit – ein zentraler Begriff der esoterischen Szene. Diese Freiheit sei keineswegs eine unregulierte Freiheit, sagt Ansgar Martins, sondern Bestandteil der großen Selbstkonzentriertheit. "Esoteriker*innen suchen nach dem authentischen Selbst, unabhängig von allen sozialen Zumutungen der Außenwelt. In der Pandemie scheinen ihre Angstfantasien vor dem Staat, dem Abstrakten wahr zu werden", so Ansgar. Halt bieten der eigene strikte Ernährungsplan und eine Kindererziehung, auf die staatliche Lehrpläne nur aus der Ferne Einfluss üben.

Dem Abstrakten, der "globalen Spaltung", setzt die Open-Air-Meditation in München ein "vereinendes Treffen in Verbundenheit" entgegen. Wenn die Menschen auf dem Marienplatz zusammenkommen, dann werde vor allem eines entstehen, ist da zu lesen: positive Energie. (Brigitte Theißl, 10.1.2021)