Den Eigentümern der zerstörten historischen Häuser fehlt es oft an finanziellen Mitteln für Sanierung und Wiederaufbau.

Anna Puhr

Fünf Monate nach der riesigen Explosion in Beirut sind die Straßen geräumt, Fensterscheiben im kilometerweiten Radius der Druckwelle ausgetauscht und Wohnhäuser bezogen. Geblieben sind die beschädigten historischen Gebäude, die der libanesischen Hauptstadt ihr charmantes Aussehen verliehen hatten. Deren ungewisse Zukunft bereitet nicht nur der libanesischen Generaldirektion für Antiquitäten große Sorgen.

Unesco, Icom (Internationaler Museumsrat) und zahlreiche andere Organisationen setzen sich für den Erhalt der geschichtsträchtigen Häuser ein. Unter ihnen befindet sich auch die libanesische Nichtregierungsorganisation Biladi (Arabisch für "mein Land") – seit 15 Jahren engagiert sich das multidisziplinäre Team rund um Joanne Farchakh Bajjaly für den Schutz von kulturellem Erbe im Libanon.

Mit dem Explosionsunglück, bei dem lagernde Feuerwerkskörper sowie riesige Mengen Ammoniumnitrat in die Luft gingen, hat die Arbeit an Relevanz und Dringlichkeit dazugewonnen: Finden sich keine finanziellen Mittel für die Restaurierung, fallen die zerstörten Gebäude der brachialen Handschrift von Immobilieninvestoren zum Opfer, deren Strategie schon seit Jahren "billiger, höher, moderner" lautet. Das wäre ein herber Verlust für das Stadtbild sowie für die Bevölkerung. Denn mit jedem weiteren abgerissenen Haus geht ein Stück Geschichte verloren.

Korrupte Elite

Insbesondere in Konflikt- und Post-Konflikt-Gesellschaften spielt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine wichtige Rolle. Die Weitergabe von überliefertem Wissen und Traditionen festigt dabei sowohl die eigene als auch die kollektive Identität und sorgt für Stabilität. Denselben Effekt haben historische Gebäude, Orte und Denkmäler. Gemeinsam sind diese immateriellen und materiellen Kulturgüter unter dem Begriff "kulturelles Erbe" bekannt. Auch Biladi ist überzeugt von dessen Bedeutung und definiert kulturelles Erbe als ein Menschenrecht, das die Identität eines Menschen bestimmt und seine Resilienz stärkt.

Die Resilienzfähigkeit, die psychische Widerstandskraft in Krisenzeiten, ist für die Bevölkerung des Libanons unentbehrlich geworden. Die Explosion im Hafen kam zu einer ohnehin schwierigen Zeit für das Land, dessen wirtschaftliche und politische Situation schon zuvor von Instabilität geprägt war. Neben der globalen Pandemie ist der Libanon vor allem mit der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Bürgerkrieg konfrontiert. Eine korrupte Elite, die das Land regiert, viele Flüchtlinge aus dem Nachbarland Syrien und das Fehlen grundlegender Dienstleistungen wie stabiler Elektrizität und systematischer Müllentsorgung zählen zu den Problemen, die zu Frustration in der Bevölkerung und zur Oktoberrevolution 2019 geführt haben. Nun wurde das Land im Herzen seiner Hauptstadt getroffen. Seine Menschen müssen Beirut erneut aufbauen.

"Paris des Nahen Ostens"

"Paris des Nahen Ostens" wurde Beirut einst aufgrund seiner zahlreichen historischen und architektonischen Kleinode genannt. Als historisch werden jene Häuser eingestuft, die vor 1920 gebaut wurden – im Umkreis der Explosion wurden laut Unesco rund 640 solcher Gebäude beschädigt. Da sich die meisten Häuser in Privatbesitz befinden und es den Eigentümern an Mitteln fehlt, die Häuser zu sanieren oder winterfest zu machen, wurde kurz nach dem Unglück eine "Emergency-Response" ins Leben gerufen.

Koordiniert von Blue Shield International, einer der Unesco zugeordneten Organisation für den Kulturgüterschutz, und mit Partnern vor Ort wurde der Schaden analysiert und anschließend Sicherungsarbeiten an den am stärksten betroffenen Gebäuden durchgeführt. Unter ihnen befanden sich auch das bekannte Sursock-Museum sowie der historisch wertvolle Bustros-Palast, der aktuell das libanesische Außenministerium beherbergt.

Die Hilfe kam gerade rechtzeitig. Insbesondere die Dächer der einzelnen Bauten wurden in Mitleidenschaft gezogen, was den Zeitdruck maßgeblich erhöhte – denn im November häuften sich wie jedes Jahr die Regentage in der libanesischen Hauptstadt.

Neues Gesetz

Nach erfolgreichem Abschluss des Notfalleinsatzes geht es nun um das Schicksal der Gebäude. Den Angeboten von Investoren, die stattdessen profitablere Hochhäuser errichten wollen, versuchen die Generaldirektion für Antiquitäten und Biladi mit Überzeugungsarbeit entgegenzuwirken. Einmal mehr wird dabei die Wichtigkeit von Erhalt und Sanierung der bestehenden Häuser hervorgehoben – sie gelten als kulturelles Erbe. Damit würde nicht nur die eigene Geschichte, sondern auch die Attraktivität der Stadt bewahrt werden.

Zumindest für ein Jahr bleiben die betroffenen Stadtteile in Beirut von baulichen Eingriffen verschont – denn noch im August wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Verkauf von Immobilien im Gebiet rund um die Explosion in diesem Zeitraum verbietet. Ein weiterer Gesetzesentwurf, der die historischen Häuser explizit als kulturelles Erbe anerkennt und sie damit vor dem Abriss schützen soll, steckt im Parlament fest. Sein Beschluss wäre wegweisend für eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung, die den identitätsstiftenden Wert der historischen Bauten anerkennt.

Gesellschaft einen

Wie schwierig es sein wird, dieses Gesetz unter der amtierenden Regierung durchzusetzen, ist sich Biladi-Chefin Joanne Farchakh Bajjaly bewusst. Aufgeben ist trotzdem keine Option – viel mehr wird sie genau das tun, was sie seit über einem Jahrzehnt erfolgreich betreibt: den Menschen vermitteln, dass das gemeinsame kulturelle Erbe der Festigung der kollektiven Identität dient.

In Zeiten einer kapitalistisch geprägten, globalen Hegemonie ist das eine notwendige Gegenstimme, die dem Anspruch nachkommt, Gesellschaften zu einen und nicht zu spalten. Denn der Identitätsdiskurs im Nahen Osten wie auch bei uns wird allzu oft von nationalistischen Populisten bedient. (Anna Puhr, 11.1.2021)