Manche Ambulanzen werden nun von Polizistengefahren.

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Bereits im Advent hatte Dawn Alexander-Joseph ihre Londoner Arztpraxis am Telefon: Ob ihre 82-jährige Mutter in vier Tagen in eine wenige Kilometer entfernte Poliklinik kommen könne? Begeistert willigte die Volksschullehrerin ein, vor Ort lief alles wie am Schnürchen, binnen weniger Minuten erhielt die betagte Dame den kleinen Pikser.

Als um den Jahreswechsel die Regierung mitteilte, fortan werde der Abstand zwischen erster und zweiter Dosis von drei Wochen auf bis zu drei Monate vergrößert, rechnete Alexander-Joseph jeden Tag mit dem Anruf, sie "sollten erst mal nicht wiederkommen". Das Befürchtete blieb aus, die Patientin erhielt vergangene Woche die zweite Dosis.

Seit Mitte Dezember wird in Großbritannien geimpft. An die zwei Millionen Menschen genießen auf der Insel bereits Immunität gegen Sars-CoV-2, die meisten mithilfe des Biontech/Pfizer-Medikaments, nun auch zunehmend durch den Oxford/ Astra-Zeneca-Wirkstoff (AZ). Zuletzt waren es täglich rund 200.000 alte oder gesundheitlich vorbelastete Menschen, hat Gesundheitsminister Matthew Hancock am Sonntag der BBC berichtet. Dazu zählten am Samstag auch Queen Elizabeth (94) und ihr Gemahl Philip (99).

Diese Woche sollen dutzende Impfzentren ihre Arbeit aufnehmen, etwa ein Teil des Kongresszentrums Excel im Osten von London, das im Frühjahr zur Notfallklinik umgebaut wurde. Wie schon in der Krise um die Nachverfolgung von Kontaktinfizierten eilt auch diesmal die Armee zu Hilfe, gestützt auf die Erfahrung beim Aufbau von Lieferketten in Kriegsgebieten.

Rekordwerte im Südosten

Gute Nachrichten von der Impffront haben die Briten bitter nötig. In einzelnen Bezirken Ostlondons und der angrenzenden Grafschaft Kent wurden zuletzt bis zu 1603 Neuinfektionen pro Woche gezählt. Landesweit wurden am Freitag im Durchschnitt der vergangenen Woche täglich knapp 60.000 Corona-Positive gezählt, beinahe doppelt so viele wie Ende Dezember. Täglich sterben im Durchschnitt 900 Patienten an den Folgen einer Corona-Infektion. Man stehe "vor dem bisher schwierigsten Moment", warnt Christopher Whitty, der höchste Gesundheitsbeamte des Landes.

Polizisten werden zum Dienst als Rettungsfahrer herangezogen, Londoner Spitäler schicken ihre Patienten ins 360 Kilometer entfernte Plymouth. Der gerade erst verschärfte Lockdown wird erstmals mit saftigen Geldstrafen durchgesetzt.

"Exzessive Bürokratie"

Umso willkommener ist den Briten ihr relativer Erfolg beim Impfen. Allerdings gibt es auch hier merkwürdige Hindernisse. So müssen die rund 40.000 Ruheständler, die sich zum freiwilligen Dienst zurückgemeldet haben, stundenlange Online-Schulungen über sich ergehen lassen. Man sehe sich mit "exzessiver Bürokratie" konfrontiert, klagt Martin Marshall vom Berufsverband der Allgemeinärzte.

Auch die regionale Verteilung der Impfstoffe lässt zu wünschen übrig. Gesundheitsminister Hancock erlebte die Probleme aus erster Hand, als er vergangene Woche eine zum Impfzentrum umgewandelte Arztpraxis im Londoner Norden besuchte: Peinlicherweise war die angekündigte Lieferung des AZ-Vakzins ausgeblieben.

Wie stets verbreitet Premier Boris Johnson Optimismus: Bis Mitte Februar werde genug Impfstoff zur Verfügung stehen, um die wichtigsten Risikogruppen zu versorgen – insgesamt knapp 14 Millionen Menschen, zeigt er sich überzeugt.

Massenhafte Schnelltests geplant

Ab 15. Jänner sollen in England auch zwei Millionen Antigen-Tests zur Verfügung stehen. Damit sollen flächendeckend symptomlose Menschen im Schnellverfahren auf das Coronavirus getestet werden, teilte Hancock mit. Innerhalb von 30 Minuten zeigen sie ein Ergebnis an. Damit will die Regierung Übertragungsketten durchbrechen. Getestet werden sollen zunächst vor allem Menschen, die nicht von zuhause aus arbeiten können.

Kritiker sind jedoch nicht überzeugt, dass die Maßnahme wirklich hilft. Bei einem Pilotversuch wurden bis zu 60 Prozent der positiven Fälle nicht erkannt, sagte ein Experte von der Liverpool School of Tropical Medicine der "Financial Times". Hancock kontert: "Mit dieser massenhaften asymptomatischen Testung ist die Rate der Fälle in Liverpool stärker gefallen als in anderen ähnlichen Gebieten, wo nur die Kontaktbeschränkungen eingeführt wurden", so der Gesundheitsminister zur BBC. (Sebastian Borger aus London, APA, red, 10.1.2021)