Martin Kocher ist neuer Arbeitsminister. Der Ökonom ist parteilos. Ideologielos ist er nicht.

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Auf der einen Seite stehen Politiker mit ihren Parteibüchern und klaren ideologischen Positionen. Auf der anderen Seite die neutralen Experten, die bloß dem Wissen verpflichtet sind. Anhand mancher Kommentare zur Bestellung des bisherigen IHS-Chefs Martin Kocher zum neuen Arbeitsminister durch Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kann leicht der Eindruck entstehen, als gäbe es tatsächlich so eine Teilung.

Die Wahrheit ist, dass es viele Politiker gibt, die zugleich Experten sind – und es so etwas wie neutrales Expertentum nicht gibt. Das gilt natürlich auch im Fall von Martin Kocher, der am Montag von Bundespräsident Alexander Van der Bellen angelobt wurde.

Martin Kocher wurde von Bundespräsident Alexander Van der Bellen als Arbeitsminister angelobt.
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Unter Gewerkschaftern kursiert schon ein böser Spruch zum neuen Arbeitsminister. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler hatte erst vor wenigen Tagen in einem Interview verkündet, dass Neoliberale, also Anhänger einer Ideologie, die einen schlanken Staat propagierten und eine größere Rolle für den Markt fordern, nun durch die Krise eine "Sendepause" haben. Von wegen, sagen nun Gewerkschafter: Mit Martin Kocher komme ein waschechter Neoliberaler an die Schaltstellen der Arbeitsmarktpolitik.

Der neue Arbeitsminister Martin Kocher in der "ZiB 2" über seine Motivation, das Amt anzunehmen, seine politische Einstellung, die Corona-Politik der Regierung und seine Konzepte für den Arbeitsmarkt.
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Das geht sicher zu weit. Der streitbare Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), ein allseits anerkannter Wissenschafter (siehe Infobox unten), war in seiner tadellosen Karriere kein blinder Vertreter irgendeines Dogmas. Doch der Verhaltensökonom ist eben auch kein meinungsloser Experte. In zahlreichen wirtschaftspolitischen Debatten hat er in den vergangenen Jahren klar Position bezogen und sich dabei durchaus Widerspruch verdient.

Weniger Schulden: Ist das wirklich besser?

Etwas, was sich in seinen Forderungen wie ein roter Faden durchzieht, ist die Warnung vor zu hohen Staatsschulden. So argumentierte Kocher als IHS-Chef 2017, Österreich tue zu wenig, um seine Staatsschulden zu senken. Das Land könne sich Schweden als Vorbild nehmen, so der Ökonom: Dort liege die Quote der Staatsverschuldung bei 40 Prozent der Wirtschaftsleistung, in Österreich hingegen bei über 80 Prozent. Sprich: Das Land solle schleunigst Schulden abbauen.

Kocher argumentierte, dass hohe Zukunftsausgaben anstehen, etwa für Pflege, Gesundheit und Pensionen – und deshalb dringend Spielräume geschaffen werden müssen. Allerdings sind solche Positionen in den vergangenen Jahren zunehmend in Kritik gekommen: Eine Rückführung der Schulden, noch dazu eine so drastische, würde die Nachfrageschwäche, die seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 in Europa herrscht, noch verstärken und nur zu neuen wirtschaftlichen Problemen führen, lautet das Gegenargument. Gerade angesichts der Klimakrise und dringend notwendiger Ausgaben in Bildung müsse der Staat tendenziell mehr, nicht weniger ausgeben. Hinzu kommt, dass inzwischen die lange herrschende Sichtweise bei vielen Ökonomen, wonach niedrigere Staatsschulden besser seien als hohe, angezweifelt wird.

Fiskalrat

Kochers Haltung hier dürfte jedenfalls dazu beigetragen haben, dass er Mitte 2020 von Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) zum Leiter des Fiskalrats ernannt wurde, eines Gremiums, das auf die solide Haushaltsführung achten soll.

Kocher befürwortete auch eine Senkung der Abgabenquote auf 40 Prozent der Wirtschaftsleistung, sprach davon, dass der Schritt "in die richtige Richtung gehe". Propagiert wurde diese Maßnahme vor allem von der ÖVP von Kanzler Kurz abwärts. Die Abgabenquote misst den Anteil an Steuern und Sozialabgaben an der Wirtschaftsleistung. Die Quote liegt in Österreich bei 42 Prozent. Und während manche Ökonomen das tatsächlich für zu viel halten, weil ihrer Ansicht nach die Belastung für Unternehmen und Bürger zu hoch sei, sagen andere, die Kennzahl allein sage wenig aus, der Ruf nach einer Senkung sei ideologisch begründet. Nordische Länder haben tatsächlich tendenziell eine höhere Abgabenquote – und leben dennoch sehr gut.

Pensionen sind zu teuer

Wo Kocher sparen will, da blieb er oft vage. Den Föderalismus nennt er als Beispiel. Konkret wurde er bei Pensionen: Hier forderte er Kürzungen: "Im Bereich der Pensionen gibt es mitunter zu viel Umverteilung. Hier führen relativ hohe staatliche Zuschüsse dazu, dass man als Einzelner nicht die Vorsorge trifft, die man eigentlich treffen könnte", sagte er einmal der "Wiener Zeitung". Im Dezember 2020 sagte er in seiner Funktion als Fiskalratschef, dass hohe Ausgaben angesichts der Corona-Krise angebracht seien. Ein klassisches Sparpaket sei nicht nötig – eben wegen der niedrigen Zinsen für die Schulden. Doch er forderte "Strukturreformen" ein, um gegenzusteuern. Auf Nachfrage, was das wäre, sprach er von "Pensionsanpassungen".

Wobei er hier keinesfalls einen Kahlschlag forderte, sondern eine langsame Erhöhung des Antrittsalters über mehrere Jahre. Und: Während Kocher hier kürzen wollte, sprach er sich an anderer Stelle für mehr Sozialstaat aus, so forderte er etwa höhere Unterstützung für Alleinerzieherinnen. In Interviews sprach er auch davon, dass die Globalisierung Verlierer produziere, die "unteren 20 Prozent der Gesellschaft" also mehr Unterstützung brauchen – in Form höherer Bildungsinvestitionen. Er war gegen eine Erbschaftssteuer, forderte aber höhere CO2-Bepreisung.

Lobende Worte für Hartz IV

Spannend wird sein, wie er sich als Arbeitsminister positioniert. Der alte Plan der türkis-blauen Koalition, die Notstandshilfe abzuschaffen, liegt auf Eis und hätte auch keine Mehrheit mit den Grünen. Weiterhin propagiert die ÖVP ein degressives Arbeitslosengeld, also möglicherweise eine Anhebung der Beiträge, auf die dann eine Absenkung folgt.

Kocher hat in der Vergangenheit, das halten ihm nun Gewerkschafter vor, freundliche Worte für die Harzt-IV-Reformen in Deutschland gefunden.

Im Zuge der Hartz-Reformen wurde die Arbeitslosenhilfe in Deutschland ab 2003 umgebaut: Das deutsche Pendant zur Notstandshilfe, das zeitlich unbegrenzt bezogen werden konnte, wurde abgeschafft. Langzeitarbeitslosen wurde die Beträge gekürzt; wer länger als ein Jahr keinen Job findet, hat nur noch Anspruch auf rund 450 Euro plus einen Wohnkostenzuschuss. Zudem mussten die Betroffenen ihr Vermögen aufbrauchen. Hartz IV hat also den Druck erhöht, sich einen Job zu suchen, viele Menschen mussten in schlecht bezahlten Jobs unterkommen.

Kontroverse Debatte

Kocher sprach in der "Wiener Zeitung" davon, dass "Hartz IV auch positive Aspekte habe". "Ja, der Druck, einen Arbeitsplatz anzunehmen, ist gestiegen. Es sind aber auch viele neue Jobs geschaffen worden, und die Anzahl der sogenannten Aufstocker ist gesunken. Dazu hat sicher auch die Konjunktur beigetragen." In der ökonomischen Debatte sind die Effekte von Hartz IV tatsächlich umstritten. Unbestreitbar ist, dass parallel zur Einführung von Hartz IV der jüngste wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands begonnen hat und die Arbeitslosigkeit dort extrem gesunken ist.

Welchen Effekt die Hartz-Reformen dabei hatten, wird kontrovers diskutiert. Auch hier lässt sich Kocher nicht in einen Topf stecken: So betonte er immer wieder, dass Druck allein keine Lösung sei, um Langzeitarbeitslose in Beschäftigung zu bringen – und es andere Maßnahmen braucht. Welche das sein können, wird er in den kommenden Wochen beantworten müssen. (András Szigetvari, Aloysius Widmann, 11.1.2021)