Die Bilder über den Sturm auf das Kapitol haben weltweit Schock in den demokratischen Staaten und Häme der Diktatoren ausgelöst. Aufruhr in Washington, fünf Tote und bis zuletzt trotz (oder wegen) des Amtsenthebungsverfahrens kaum verhohlene Angst vor der entfesselten Wut Donald Trumps inmitten der Trümmer seiner bizarren Präsidentschaft.

Eine Geschichte sei erst dann zu Ende, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen habe, meinte der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt (1921–1990). War die Erstürmung des Kapitols das Ende des Schreckens oder wird die Lage in der Zukunft noch schlimmer? Wie zerbrechlich ist die US-amerikanische Demokratie?

Viele Beobachter, auch im Ausland, haben die vier Jahre der Ära Trump als einen zeitweiligen Rückschlag für die liberale Demokratie und die Bücher und Studien über die lauernden Gefahren als maßlose Übertreibung betrachtet. Die Zunahme des Stimmenanteils jener, die sich bei Meinungsumfragen für einen "starken Führer" aussprachen, von 25 Prozent im Jahr 1995 auf 38 Prozent 2017, wurde auch ignoriert.

Die Folgen Trumps aufrührerischerer Tweets hätten keine Überraschung seien sollen, so Politikwissenschaftlerin Pippa Norris.
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Mit Hinweis auf diese sich anbahnende Radikalisierung stellte die angesehene Harvard-Politikwissenschafterin Pippa Norris vor einigen Tagen fest, die Behauptung Trumps, Joe Biden habe die Wahl gestohlen, wirkte wie ein angezündetes und in eine Benzinlache geworfenes Streichholz. Trump habe 300 aufrührerische Tweets seit der verlorenen Wahl ausgesandt, und ihre Folgen hätten nicht als eine Überraschung wirken sollen. Darüber hinaus sei laut Norris die Republikanische Partei, die zwischen 1992 und 2020 nur einmal mehr Stimmen bekommen hat als die Demokraten, extrem rechts geworden. Sie ähnele eher der deutschen AfD und anderen rechtsextremen Parteien in Holland oder Spanien als einer traditionellen Mitte-rechts-Volkspartei.

Weltweiter Stimmenumschwung

Vor dem Aufruhr meinten 75 Prozent der republikanischen Wähler, dass Trump nicht aufgeben solle, und nach dem Sturm auf das Kapitol haben ihn immerhin noch 45 Prozent unterstützt. Dass auch nach der Belagerung durch den Pöbel noch immer sieben einflussreiche Senatoren und 121 Abgeordnete bei der Abstimmung über die formelle Bestätigung der Präsidentenwahl mit Trump solidarisierten, bestätigt die Stärke der Anhängerschaft des abgewählten Demagogen.

Bedenklich ist auch der weltweite Stimmenumschwung. Nach der Wende galten in Deutschland wie auch in allen mittel- und osteuropäischen Staaten die USA als ein "Leuchtturm der Demokratie". Alle Umfragen bestätigen seit Jahren eine fallende Kurve. Selbst in dem mit traditioneller Freundschaft verbundenen Großbritannien hat die Hälfte der Bewunderer (80 Prozent der Befragten) ihre Meinung geändert.

Trotzdem stimme ich mit der Meinung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen überein, die an die Stärke der US-Institutionen und der Demokratie glaubt. Wenn man, wie ich, die Krise um den Rücktritt Richard Nixons wegen des Watergate-Skandals und ihre Überwindung bei US-Vortragsreisen erlebt hat und nun die fesselnden Erinnerungen Barack Obamas, des ersten schwarzen Präsidenten, liest, kann man die Überlebensfähigkeit dieser großen Demokratie nicht bezweifeln. (Paul Lendvai, 11.1.2021)