Neulich in Alaska: Ein Wolf nagt an einem Knochen, kritisch beäugt von einem Kolkraben. Eigentlich wäre dem Raubtier Muskelfleisch lieber. Wurde der Wolf damit vor gut 20.000 Jahren domestiziert?

imago/Nature Picture Library

In Pandemiezeiten herrschte in vielen Ländern besondere Nachfrage nach Hunden: Der Besitz dieser Haustiere erlaubte nämlich vielerorts, dass Zweibeiner ausnahmsweise die eigene Wohnung verlassen durfte, um gemeinsam mit dem Vierbeiner äußerln zu gehen. Wie der Hund zum liebsten Begleiter des Menschen wurde (der mittlerweile selbst so gefügig gemacht wurde, dass er selbst die Fäkalien des Hausgenossen eigenhändig entsorgt), ist eine lange und seit vielen Jahren intensiv erforschte Geschichte.

Dank paläogenetischer Aufschlüsse weiß heute, dass sich dieser Prozess gegen Ende der letzten Eiszeit, also vor mindestens 14.000 bis 29.000 Jahren zutrug. Im Altaigebirge in Südsibirien wurde sogar ein Canidenschädel entdeckt, der nach morphologischen Kriterien dem eines Hundes entspricht, obwohl er bereits 33.000 Jahre alt ist. Da diese Zähmung so früh erfolgte, haben wir auch keine konkreten Zeugnisse oder Aufzeichnungen, wie sie passierte. Und Höhlenmalereien helfen in der Frage auch nur sehr bedingt weiter.

Vielzahl an Hypothesen

Stattdessen gibt es umso mehr wissenschaftliche Hypothesen, wie der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal erklärt, der einige Bücher über Mensch-Hund-Beziehungen schrieb und das Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn mitbegründete. "Das sind alles historische Szenarios, die im Sinne der Wissenschaftstheoretikers Karl Popper Mythen bleiben müssen", erklärt der Hunde- und Wolfsforscher: "Wahrscheinlich kann man gerade deswegen so trefflich drüber streiten."

Kotrschal nennt eine ganze Reihe an Hypothesen, die sich zum Teil ergänzen, überlagern und eher nicht ausschließen. Und auch er selbst kann den meisten von ihnen etwas abgewinnen, wie etwa der Selbstdomestikationshypothese. Diese Vermutung geht davon aus, dass es sich Wölfe an Menschen gewöhnten, weil es dort etwas zu holen gab – wie etwa Jagdreste. Im Zusammenleben von Tieren mit und neben Menschen komme es dann zu einer relativ raschen Selektion auf Zahmheit, so Kotrschal.

Kooperation und Spiritualität

Die Kooperationshypothese wiederum geht davon aus, dass dabei die Handaufzucht von jungen Wölfen eine zentrale Rolle spielte. Jene sei nötig ist, damit die Wölfe sozial integriert und kooperativ werden. Diese These wird etwa auch von den Wolfsforscherinnen und -forschern in Ernstbrunn vertreten.

Kotrschal hält zudem – im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen – die Spiritualitätshypothese für wichtig: "Wölfe spielten in der animistischen Spiritualität dieser Leute eine große Rolle und waren spirituelle Projektionsflächen." Er selbst propagiert zudem noch die Auffassung, dass Wölfe und steinzeitliche Menschen von Anfang an einfach perfekt zusammenpassten, weil sie sozial und ökologisch ganz ähnlich ticken.

Freundschaft durch Fleisch?

Nun kommt noch eine weitere Annahme dazu, die in gewisser Weise die Selbstdomestikationshypothese ergänzt: Maria Lahtinen (Finnische Ernährungsbehörde und Finnisches Naturkundemuseum) und Kollegen stellten für ihre neue Studie im Fachblatt "Scientific Reports" einfache Berechnungen an, wie viel Protein und Fett die Jagdbeute des eiszeitlichen Menschen insbesondere in harten Wintern einbrachte und kamen zum Ergebnis, dass fast alle gejagten Tiere (also insbesondere Elche, Bisons, Hirsche oder Pferde) mehr Eiweiß lieferten, als der Mensch verzehren konnte.

Das habe wiederum zu einem Überschuss vor allem an magerem Fleisch geführt. Denn der Mensch habe sich damals lieber an die fettreichen Teile gehalten. Das Verfüttern von überschüssigem magerem Fleisch an Wölfe habe nicht nur die Konkurrenz um die gleichen Beutetiere entspannt. Es könnte laut den Forschern auch das Zusammenleben mit gefangenen Wölfen erleichtert haben. Die Verwendung von Hauswölfen als Jagdhelfern und Wächtern habe schließlich den Domestizierungsprozess bis hin zur vollständigen Domestizierung von Hunden weiter gefördert.

Kurt Kotrschal hält es für einigermaßen plausibel, dass auch wegen der Ernährungsgewohnheiten der steinzeitlichen Menschen überschüssiges mageres Fleisch anfiel, das für Wölfe blieb. Aber einigen Details der Begründung dieser neuen Hypothese kann er gar nichts abgewinnen.

Falsche Nebenannahmen

So behaupten Lahtinen und Kollegen, dass Wölfe reine Fleischfresser seien und insbesondere mageres Fleisch bevorzugen würden. Kotrschal weiß hingegen aus eigener Erfahrung: "Wenn man sie ihm Gehege nur damit versorgt, tut das den Wölfen gar nicht gut." Dass die steinzeitlichen Jäger das Fleisch aktiv verfüttert haben könnten, wie die Autoren behaupten, scheint ihm ebenfalls wenig plausibel: Das passiere nicht einmal in den arktischen Schlittenhundekulturen, wo sich die Hunde vorwiegend selbst um ihr Fressen kümmern müssen.

Das Resümee des österreichischen Hunde- und Wolfsexperten: Der Fleischüberschuss und die unterschiedlichen Fleischpräferenzen von Mensch und Wolf könnte einer der Faktoren für eine stabile Partnerschaft gewesen sein – aber mit einiger Sicherheit nicht der wichtigste. (tasch, 15.1.2020)