Die Pandemiebekämpfung kann nur durch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit gelingen. Die gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen in der EU bringe Vorteile, sagt Martin Selmayr, der Vertreter der Europäischen Kommission in Wien, im Gastkommentar.

Nationale Regierungen, auch Österreich, haben sich aus guten Gründen freiwillig dazu entschlossen, die Impfstoffbeschaffung gebündelt über die Europäische Kommission zu organisieren.
Foto: AFP / Sebastien Bozon

In diesen Tagen beginnen weltweit die Impfungen gegen das Coronavirus. Da hier einige Länder etwas schneller zu sein scheinen, stellen sich manche die Frage, ob es richtig ist, dass die 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht jeder für sich, sondern alle gemeinsam über die Europäische Kommission Impfstoffe bestellt haben. Hätten sich einzelne Länder allein vielleicht schneller Impfstoffe beschaffen können?

Es mag durchaus sein, dass einzelne EU-Mitgliedsstaaten bei entsprechenden finanziellen Aufwendungen in den ersten Wochen etwas rascher an die ersten Impfstoffdosen gekommen wären. Niemand hätte die EU-Mitgliedsstaaten an nationalen Alleingängen hindern können, denn die Zuständigkeit für solch gesundheitspolitische Fragen liegt in Paris, Berlin, Rom und Wien, und nicht auf europäischer Ebene. Dennoch haben sich die nationalen Regierungen, auch Österreich, aus guten Gründen freiwillig dazu entschlossen, die Impfstoffbeschaffung gebündelt über die Europäische Kommission zu organisieren. Das Virus kennt keine Grenzen und unterscheidet nicht nach Nationalitäten. Deshalb kann die Pandemiebekämpfung nur durch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit gelingen. Gerade eine gemeinsame EU-Beschaffung von Impfstoffen bringt viele Vorteile, auch für Österreich.

Größere Marktmacht

Erstens hat das Land im Team mit den übrigen EU-Staaten eine ungleich größere Marktmacht als im Fall eines Alleingangs. Höhere Abnahmemengen ergeben gemäß dem betriebswirtschaftlichen Einmaleins bessere Konditionen. Mit knapp neun Millionen Einwohnern, beziehungsweise zwei Prozent der EU-Bevölkerung, profitiert Österreich besonders stark vom kollektiven Auftritt.

Hohe Standards

Zweitens garantiert das europäische Verfahren hohe Standards, die Vertrauen schaffen. Damit die Impfungen der Pandemie Einhalt gebieten können, müssen mindestens 70 Prozent der Bevölkerung von der Wirkung der Maßnahme überzeugt sein und sich impfen lassen. Die EU-Staaten haben deshalb gemeinsam beschlossen, keine Notzulassung von Impfstoffen durchzudrücken, sondern auf das bewährte, einige Wochen länger dauernde Regelverfahren der Europäischen Arzneimittelagentur zu setzen, bei dem höchste Sicherheitsstandards gelten. Dieses sieht auch vor, dass Unternehmen für ihre Impfstoffe haften – bei der andernorts erfolgten Notzulassung muss der Staat für die Qualität des Impfstoffs geradestehen.

Gemeinsames Interesse

Drittens hat Österreich – wie alle EU-Mitgliedsstaaten – ob seiner engen wirtschaftlichen Vernetzung in der EU ein elementares Interesse daran, dass auch in anderen Staaten wirksam geimpft wird. Denn nur so kann in ein paar Monaten unser Binnenmarkt wieder reibungslos funktionieren. Die logische Konsequenz eines Impfstoffnationalismus wäre Einigelung. Und diese ist kontraproduktiv, insbesondere im Fall Österreichs. Das Land braucht Touristen, Geschäftsreisende und auch Pendler aus dem EU-Ausland, vor allem in der Pflege und der Lebensmittelproduktion.

Viertens würde eine Impfstoffbeschaffung im Stil "jeder für sich" de facto "jeder gegen jeden" bedeuten. Tiefe politische Risse in der Union wären vorprogrammiert. Gerade Österreich, das Brückenbauer in Europa sein will, bedarf einer starken, geeinten EU und hat sich daher zu Recht für eine Impfstoffbeschaffung im europäischen Team entschlossen.

Gestärkter Produktionsstandort

Fünftens hat die gemeinsame EU-Strategie eine beabsichtigte industriepolitische Nebenwirkung: Denn sie setzt auch auf europäische und ortsnah produzierende Unternehmen und stärkt somit den Produktionsstandort und die Versorgungssicherheit in Europa.

Im Zuge der im Juni 2020 beschlossenen und von Österreich maßgeblich unterstützten EU-Impfstoffstrategie hat die Europäische Kommission deshalb im Namen aller Mitgliedsstaaten ein diversifiziertes Portfolio potenzieller Impfstoffe angelegt. Derzeit umfasst es bis zu 2,3 Milliarden Dosen und baut auf verschiedene Hersteller und verschiedene Technologien. Es sind mehr als genug Impfstoffe bestellt worden, um alle in der EU lebenden Menschen bis Sommer zu impfen. Auch in die Ausweitung der Produktionskapazitäten der Impfstoffunternehmen wurde gemeinsam, zum Beispiel über die Europäische Investitionsbank, investiert, sodass die aktuellen Engpässe bei einigen Unternehmen sehr bald überwunden sein werden.

Gigantische Aufgabe

Wir sollten uns also nicht von jahresanfänglichen Momentaufnahmen bei den Impfdaten ins Bockshorn jagen lassen. Es ist für alle Regierungen und auch für die EU eine gigantische logistische Aufgabe, in wenigen Monaten wirksame Impfstoffe gegen ein neuartiges Virus zu beschaffen und anschließend Millionen Menschen zu impfen. Es geht aber jetzt nicht um Schnellschüsse und kurzfristige PR-Erfolge, sondern um eine nachhaltige Durchimpfung der Bevölkerung, die auf dem Vertrauen der Menschen in die Sicherheit der Impfstoffe basieren muss. Europa ist dabei gut unterwegs. Sobald breite Impfkampagnen angelaufen sind, wird sich spätestens im Sommer zeigen, dass der gemeinsame, europäische Weg der einzig richtige war und ist. Denn nur im Team werden wir Österreich – und die EU insgesamt – aus dieser Pandemie führen.

Dabei denken wir auch an unsere Nachbar- und Partnerländer außerhalb der Europäischen Union, für die wir mit der Covax-Initiative die Impfstoffbeschaffung mitfinanzieren. Denn die Pandemie wird erst dann vorüber sein, wenn das Virus überall besiegt sein wird. Nicht nur in Österreich, nicht nur in der EU. Sondern überall auf der Welt. (Martin Selmayr, 11.1.2021)

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