In Österreich besitzt die Hälfte der Haushalte zusammen nicht einmal mehr drei Prozent Anteil am gesamten Nettovermögen, das reichste Prozent hingegen rund 40 Prozent. Noch viel ungleicher verteilt sind die Einkommen aus diesen Vermögen, die sich immer mehr an der Spitze konzentrieren und die Ungleichheit stetig weiter erhöhen. Währenddessen stagnieren die Realeinkommen für viele.

Eine Trendumkehr dieser gesellschaftlich problematischen Dynamik ist aufgrund des Einflusses der Reichsten und ihrer Thinktanks auf Politik, Medien und Wissenschaft nahezu ausgeschlossen. Denn mit steigender Reichtumskonzentration steigt auch stetig deren Einfluss – ein aus demokratischen Gesichtspunkten bedenklicher Kreislauf, der die politische Gleichheit sukzessive aushöhlt.

Die Trickle-down-Theorie soll die wachsende Ungleichheit zumindest ökonomisch legitimieren: Schließlich würde die gesamte Gesellschaft davon profitieren. Umgekehrt würde der Kuchen kleiner werden, würde man die Verteilung der Stücke infrage stellen.

Die Flut hebt alle Boote – zumindest in der Theorie.
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Von den Marktplätzen des Feudalismus zur feudalen Marktwirtschaft

Als ein Begründer des Trickle-Down-Effekts gilt Adam Smith, der im 18. Jahrhundert beschrieb, wie sich durch Arbeitsteilung wachsender Wohlstand "selbst bis zu den untersten Klassen des Volkes erstreckt". Die heutige neoliberale Interpretation stellt Smith jedoch auf den Kopf, denn dieser betonte stets, dass Armut vielmehr die Voraussetzung für den großen Reichtum Einzelner sei: "Für einen sehr reichen Mann muß es wenigstens fünfhundert Arme geben, und der Überfluß bei den wenigen setzt die Dürftigkeit bei der Menge voraus."

John Stuart Mill, eine weitere Ikone des Liberalismus, argumentierte im 19. Jahrhundert, dass jede Zusatzeinheit Geld den individuellen Nutzen in immer geringerem Ausmaß steigert. Eine Person, die statt zehn Milliarden Euro plötzlich nur noch eine Milliarde Euro besitzt, würde dies ohne Blick auf die Zahlen vermutlich ebenso wenig bemerken wie die nachfolgenden Erbgenerationen. Umgekehrt würden Menschen, die aktuell kaum etwas besitzen, einen überproportionalen Nutzen aus kleinen Zuwächsen ziehen. Nach dem "Prinzip des größten Glücks" würde eine fairere Aufteilung des ökonomischen Kuchens den von Utilitaristen wie Mill angestrebten gesellschaftlichen Gesamtnutzen steigern.

John Maynard Keynes sah in der "willkürlichen und ungerechten Verteilung von Vermögen und Einkommen" eine Gefahr für Wirtschaft und Wohlstand, führt diese doch zu sinkendem Konsum und destabilisierender Spekulation an den Finanzmärkten. Das Wachstum des Wohlstands ist nicht etwa speziellen Tugenden der "Reichen" zu verdanken, sondern "es ist vielmehr wahrscheinlich, dass es dadurch behindert wird", urteilte Keynes Mitte des 20. Jahrhunderts und forderte hohe vermögensbezogene Steuern. Insbesondere bei der Besteuerung großer Erbschaften lehnte er ein vorsichtiges Vorgehen ab.

Heute ist die Trickle-down-Theorie ideologischer Grundpfeiler unserer mehr und mehr von großen Erbschaften geprägten feudalen Marktwirtschaft: Die Reichen müssen reicher werden, damit sie investieren. Die Armen müssen arm bleiben, um nicht faul zu werden. Oder wie es Friedrich A. Hayek einst formulierte: "Zum mindesten ein sehr großer Prozentsatz der Menschen hat einen äußeren Druck nötig, wenn sie alle ihre Kräfte anspannen sollen."

Die Trickle-down-Theorie wird zur Steam-up-Realität

"Reaganomics" wurde die von neoliberalen Vordenkern wie Hayek inspirierte Wirtschaftspolitik des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan genannt. Dieser forcierte ebenso wie Margaret Thatcher ab den 1980er-Jahren die Deregulierung der Finanzmärkte, massive Steuersenkungen für die Reichsten und die Privatisierung von Staatsbesitz. Die dadurch verursachten Zuwächse an der Spitze sollten irgendwann auch zur normalen Bevölkerung durchsickern ("to trickle down").

Dreißig Jahre später stellte Nobelpreisträger Paul Krugman fest, dass der Abstand zwischen Arm und Reich zwar immer "unglaublicher" und die Mittelschicht immer kleiner wird, für die Gesamtgesellschaft aber kein Gewinn zu erkennen ist. Für Nobelpreisträger Joseph Stiglitz scheint es häufig eher so zu sein, dass sich "die ganz oben (…) unmittelbar auf Kosten derer ganz unten" bereichern und "alle Früchte des Wirtschaftswachstums ernten".

Auch empirische Studien zeigen, dass die wachsende ökonomische Ungleichheit der Wirtschaft schadet und Gewinne nicht nach unten sickern. Maßnahmen der Umverteilung scheinen sich positiv auf das Wirtschaftswachstum auszuwirken. Demgegenüber haben Steuersenkungen an der Spitze keinerlei positive Auswirkungen auf Wachstum oder Beschäftigung. Durch die steigende Vermögensungleichheit fällt es vielen zudem immer schwerer, Investitionen zu tätigen, was den Kuchen weiter schmälert.

Die wachsende Ungleichheit ist für die meisten also doppelt bitter: Vom dadurch verursachten geringeren Wachstum kommt noch weniger an. Das aktuelle Steuersystem beschleunigt die Dynamik: Obwohl die höchsten Einkommen großteils aus Vermögen stammen und vermögensbezogene Steuern als vergleichsweise wachstums- und beschäftigungsfreundlich gelten, wird in Österreich vor allem Arbeit besteuert.

Die Trickle-down-Theorie wird zur Steam-up-Realität. Der Wohlstand nieselt nicht von oben herab, sondern verdampft durch die wachsende Ungleichheit für viele.

Ist die schiefe Reichtumsverteilung ungerecht?

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob wirtschaftliche Vorteile überhaupt den durch Überreichtum verursachten Schaden an Demokratie und Gesellschaft rechtfertigen könnten.

John Rawls, der heuer seinen 100. Geburtstag hätte und als einer der wichtigsten liberalen Philosophen des 20. Jahrhunderts gilt, kritisierte zwar das oben erwähnte Nutzenprinzip der Utilitaristen. Er stellte aber fest, dass ökonomische Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn alle davon profitieren und faire Chancengleichheit besteht. Keinesfalls können wirtschaftliche Vorteile Einschränkungen der gleichen politischen Freiheit rechtfertigen. Dennoch wurden, so Rawls, stets Vermögensungleichheiten geduldet, "die weit über das hinausgingen, was mit der politischen Gleichheit verträglich ist" und welche die faire Chancengleichheit "lähmen" – notwendige Ausgleichsmaßnahmen wurden nie ernsthaft erwogen.

Die aktuelle Reichtumskonzentration sowie der undemokratische Einfluss großer Vermögen sind problematisch und wären es auch bei ökonomischen Vorteilen. Die Trickle-down-Theorie ist aber ohnehin weder empirisch haltbar noch theoretisch plausibel. Die negativen Folgen der immer schiefer werdenden Vermögensverteilung auf Gesellschaft, Demokratie und Wirtschaft sind hingegen eindeutig, spielen aber – um es in den Worten von Rawls auszudrücken – in dem von potenten Interessen verzerrten Diskurs kaum eine Rolle. (Mario Hübler, 22.1.2021)