Die Nationalgarde vor dem Kongress. Sie soll, wenn alles gutgeht, in den kommenden Tagen weitere Umsturzversuche verhindern.

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Wenn Joe Biden am Mittwoch in einer Woche seinen Amtseid ablegt, tut er das in einer Stadt, die einer belagerten Festung gleicht. Ein Riesenaufgebot an Polizisten und Nationalgardisten wird hoffentlich dafür sorgen, dass rechte Milizen nicht weit kommen, falls sie marschieren. Auf dass sich nicht wiederholt, was als dunkelste Stunde in die Annalen des amerikanischen Parlaments eingeht.

Biden wird sich treu bleiben in der Rolle des Versöhners, der tiefe Gräben zuzuschütten versucht. Seine wichtigste Aufgabe sieht er darin, das polarisierte, aufgewühlte, in Teilen wütende Land wieder zu einen. Damit trifft er einen Nerv. Wenn er jedoch als Antwort auf die Krawalle betont, dass Amerika in Wahrheit ganz anders sei, als man nach den verstörenden Bildern des 6. Januars denken könnte, dann folgt er einem Reflex, der bei der Aufarbeitung des Kapitels nicht wirklich hilft.

So sind wir nicht

"That’s not who we are." – "So sind wir nicht." Wer das sagt, unternimmt den Versuch, nach dem Schock der Ereignisse Halt und Trost zu finden. Das ist verständlich, doch der Satz stimmt natürlich nicht. Natürlich ist der Mob, den Donald Trump zum Sturm aufs Kapitol aufwiegelte, Teil der amerikanischen Realität. Die Symbole, die in der Menge zu sehen waren, sind es ebenso. Etwa die Flagge der Konföderierten, von Südstaatlern zum Teil ihres Erbes verklärt, tatsächlich ein Zeichen rassistischen Dünkels. Oder, in Sichtweite des Kapitols aufgebaut, der Galgen samt Schlinge, in dem schwarze Amerikaner nur eine Anspielung auf die Lynchmorde sehen können, denen Tausende ihrer Vorfahren zum Opfer fielen.

Wenn Mo Brooks, ein Abgeordneter aus Alabama, unmittelbar vor der Attacke sagte, man solle sich schon einmal ein paar Namen aufschreiben, um später den richtigen Leuten in den Hintern zu treten, dann zeigt das, wie weit nicht nur der abgewählte Präsident zu gehen bereit war in dem Versuch, das Ergebnis einer demokratischen Wahl zu kippen. Eine Republikanische Partei, deren rechter Flügel ins Extreme, Diktatorische abgleitet – auch das ist Amerika.

Ermunterte Neonazis

Unterschwellig gab es das alles schon, bevor Trump ins Weiße Haus einzog. Der Demagoge hat Hemmschwellen gesenkt. Er hat Rassisten das Gefühl gegeben, ihrem Hass freien Lauf lassen und aus dem Oval Office noch mit Applaus rechnen zu können. Mit einem Präsidenten, der nach der Provokation von Charlottesville selbst Neonazis bescheinigte, dass es in ihren Reihen sehr gute Leute gebe, fühlten sich die Überlegenheitsfanatiker erst recht ermuntert. Und als Georgia am 5. Januar zum ersten Mal überhaupt einen schwarzen und einen jüdischen Kandidaten in den US-Senat wählte, sahen sie sich in ihren abstrusen Feindbildern wiederum bestätigt.

Diesen Teil der Wirklichkeit nach dem Motto kleinzureden, dass man in Wahrheit ganz anders sei, trägt nur dazu bei, Teile der Wahrheit unter den Teppich zu kehren. Was Amerika nach Bidens Amtseinführung braucht, ist eine ehrliche Debatte. Eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, in der für Phrasen kein Platz sein darf. (Frank Herrmann, 12.1.2021).