Die Virusmutation aus Großbritannien könnte schuld daran sein, dass die Klassenzimmer noch länger leer bleiben.

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Kehren die Schülerinnen und Schüler ab Montag wieder in die Schulen zurück? Oder bleibt das Distance-Learning aufgrund des Infektionsgeschehens aufrecht? Für Mitte der Woche wurde Schülern, Eltern und Lehrern Klarheit versprochen. "Die Gespräche laufen noch, eine Entscheidung wird voraussichtlich am Mittwoch gefällt", sagte eine Sprecherin von Heinz Faßmann (ÖVP) am Dienstag zum STANDARD. Auch aus dem Bundeskanzleramt heißt es, die Entscheidung falle spätestens am Mittwoch.

Faßmann drängt auf die Rückkehr an die Schulen am 18. Jänner, wie ursprünglich vereinbart. Auch die Oberstufenschüler, die seit Anfang November im Homeschooling sind, sollten wieder in den Präsenzunterricht zurückkehren. Der Bildungsminister war um Einigkeit mit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bemüht. Die beiden seien einer Meinung, dass die Schulen als Erstes – vor Handel und Gastronomie – wieder öffnen sollten.

Virusmutation bremst Öffnung

Nun gibt es aber Hinweise darauf, dass vor den Semesterferien, die über drei Wochen gestaffelt ab der ersten Februarwoche stattfinden, keine Rückkehr an die Schulen geplant sei. Im Raum stehen auch regional unterschiedliche Öffnungsschritte. Argument für Öffnungsgegner ist, dass nun ohnehin bald Ferien anstünden und man die wenigen Tage noch zu Hause überbrücken könne. Auch seien die neuen Virusmutationen unberechenbar. Der Bundeskanzler präferiert offenbar ein noch längeres Verweilen der Kinder im Homeschooling.

Gerade der Blick auf Großbritannien ist für den Mikrobiologen Michael Wagner der Grund dafür, für Vorsicht zu appellieren. Während der Großteil der vom STANDARD befragten Experten für eine Öffnung eintritt, sieht er diese skeptisch.

Für

Ansteckung vermeiden – dort, wo es Sinn macht. "Derzeit gibt es keine Daten, die überzeugend darauf schließen lassen, dass die jüngeren Altersgruppen von der neuen britischen Virusvariante stärker betroffen sind", sagt Daniela Schmid, Infektionsepidemiologin der Gesundheitsagentur Ages. Die anfänglich in diese Richtung gehende Annahme wurde mittlerweile revidiert. "Untersuchungen zeigen, dass sich die neue Virusvariante in allen Altersgruppen gleich ausgebreitet hat, es gibt bisher keinen Hinweis auf eine stärkere Ausbreitung bei Kindern und Jugendlichen", sagt auch Virologin Judith Aberle von der Med-Uni Wien.

Die Anzahl der positiv getesteten Kinder sei gestiegen, doch das spiegle die Gesamtepidemiologie wider. "Je stärker das Virus kursiert, umso höher die positiven Testungen in allen Altersgruppen", sagt der Kinderarzt Reinhold Kerbl, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, und bezieht sich dabei auf die Ergebnisse der Gurgelstudien. Zu Beginn der Pandemie waren 0,36 Prozent der Kinder positiv, in der zweiten Phase im Herbst 1,4 Prozent. "Wir können nicht nachvollziehen, auf welcher Basis man die Politik der Schulschließungen rechtfertigt", so Kerbl. Auch die Angst der Eltern überträgt sich: "Das ist nicht trivial", sagt er.

Schon jetzt sei ersichtlich, dass Corona in vielen Lebensbereichen Ungleichheiten verschärft. Bildung ist eine Determinante für lebenslange Gesundheit. "Kinder, die in stabilen Lebensbereichen aufwachsen, werden weniger beeinträchtigt als solche aus einem belasteten Umfeld", sagt Public-Health-Experte Martin Sprenger. Das seien Folgen, die in 20 Jahren relevant werden.

"Schulen müssen sicherer gemacht werden, damit endlich wieder Präsenzunterricht stattfinden kann", fordert auch Beate Meinl-Reisinger von den Neos, die in den Tests einen Weg sieht.

Wider

Lieber Vorsicht walten lassen und die Kinder nicht zu früh wieder in die Schulen schicken. Das ist das Hauptargument jener, die sich dagegen aussprechen, die Bildungsinstitutionen trotz umfangreicher Teststrategie ab nächster Woche in den Regelbetrieb überzuführen. Der Mathematiker Nikolaus Popper ist zwar alles andere als ein deklarierter Gegner der Schulöffnungen. Er gibt aber zu bedenken, dass die Datenlage einmal mehr ungewiss ist, um klare Empfehlungen aussprechen zu können. Zum einen geht es um die Mutation aus Großbritannien. Er fordert mehr Evidenz, um die Lage besser einschätzen zu können.

Dass die Schüler und Lehrer einmal pro Woche getestet werden sollen, empfindet er von der Häufigkeit her als ausreichend, es sollten aber genügend daran teilnehmen. 30 Prozent würden nicht ausreichen. Generell appelliert Popper, immer die "Kosten-Nutzen-Frage" zu stellen. Was bringe es, jetzt in Wien die Schulen zu öffnen, wenn schon am 21. Jänner Notenschluss sei? Was habe man davon, die Skilifte zu öffnen? Diese Fragen müssten die Verantwortlichen beantworten.

Deutlich in seiner Einschätzung ist Michael Wagner, Mikrobiologe an der Universität Wien. Man wisse inzwischen, dass Kinder ähnlich häufig infiziert sind wie Erwachsene. Wenn man Daten aus Großbritannien anschaue, könne man sehen, dass dort der Lockdown im Dezember mit offenen Schulen nicht funktioniert habe. Vor Weihnachten seien viele Kinder und Jugendliche infiziert gewesen und hätten das Virus dann offensichtlich während der Weihnachtsferien an die Erwachsenen weitergegeben.

Die neue Mutation stelle eine "sehr große Herausforderung" für Politik und Bevölkerung dar. "Aus mikrobiologischer Sicht ist es derzeit ein erhebliches Risiko, die Schulen zu öffnen", sagt Wagner zum STANDARD.

(Karin Pollack, Rosa Winkler-Hermaden, 12.1.2021)