"Viele gesundheitliche Probleme sind erst entstanden, als die Menschheit aufgehört hat zu gehen", sagt der Sportwissenschafter Erich Müller.

Foto: Istock/Patrick Daxenbichler

Es ist schon spät. Draußen ist es stockfinster, eisiger Wind weht. Die Couch wirkt da gerade deutlich verlockender. Aber ein Blick auf die Schrittzähler-App am Handy zeigt: 4287 Schritte fehlen noch auf das tägliche Ziel von 10.000 Schritten. Also noch einmal rausgehen und ein paar Tausend Schritte zurücklegen, um sich die Wochenstatistik nicht zu verhauen? Oder lieber den direkten Weg: Kühlschrank, Couch und ab ins Bett?

Die meisten kennen das Problem, auf fast allen Handys ist eine Schrittzähler-App installiert. Andere tragen sogar einen Fitnesstracker am Handgelenk. 10.000 Schritte pro Tag – das sind je nach Schrittlänge sieben bis acht Kilometer – gelten als das Nonplusultra.

Japanischer Schrittzähler

Hinter dem hehren Schrittziel steckte ursprünglich keine wissenschaftliche Studie. Vielmehr handelte es sich um einen Werbegag. In Japan kam in den 1960er-Jahren ein Schrittzähler auf den Markt. Er hieß "Manpo-kei", was etwas sperrig mit "10.000-Schritte-Zähler" übersetzt werden kann. Mit den schnittigen Gadgets von heute hatte der Schrittzähler, der eher an einen klobigen Kompass erinnerte, nicht viel gemeinsam. Aber die magische Zahl von 10.000 ist geblieben.

Seither hat sich auch die Wissenschaft oft mit der Frage auseinandergesetzt, wie viel Bewegung nötig ist, um gesund zu bleiben. Sie kam, je nach Studiendesign und konkreter Fragestellung, auf Schrittziele irgendwo zwischen 7.500 und ambitionierten 15.000. Einig sind sich Expertinnen und Experten aber darin, dass die meisten Menschen sich im Alltag viel zu wenig bewegen.

Wir Faulsäcke

"Viele gesundheitliche Probleme sind erst entstanden, als die Menschheit aufgehört hat zu gehen", sagt der Sportwissenschafter Erich Müller von der Universität Salzburg. Dabei war die Bewegungsform einst unser Erfolgsrezept: "Der Mensch hat es geschafft, zu überleben, weil er schneller war und weiter laufen konnte als andere." Dann kamen das Auto und die Bequemlichkeit. Viel, viel später auch noch eine Corona-Pandemie, die viele ins Homeoffice verbannte – und den Bewegungsradius weiter verkleinerte.

Wenn Müller von den Vorzügen der Bewegungsform berichtet, fällt es schwer, stillzusitzen. Zügiges Gehen sei ein ideales Training für das Herz-Kreislauf-System. Dabei wird die Rumpfmuskulatur gekräftigt und die Wirbelsäule stabilisiert. Gleichzeitig wird der Gleichgewichtssinn geschult, die Durchblutung im Gehirn wird angeregt. Durch moderates Training, zu dem auch Gehen zählt, kann man Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch Osteoporose und sogar Demenz vorbeugen. Studien haben gezeigt, dass ein moderates Ausdauertraining auch bei Depressionen helfen kann.

Die 10.000 Schritte sollten dabei lediglich als Orientierung gelten, betont Müller: "Man darf nicht den Fehler machen, an dieser Zahl zu kleben." Ein Ziel könnte sein, fünfmal pro Woche die magische Zahl zu knacken, um gesundheitlich zu profitieren. Wie bei jedem körperlichen Training gilt aber auch beim Gehen: lieber langsam steigern. Wer jahrelang nur wenig Bewegung gemacht hat, sollte sich auch an die 10.000 Schritte zunächst eher herantasten.

Rauf und runter

Auch hier zählt die Nachhaltigkeit. Je komplexer das Training, umso unwahrscheinlicher ist, dass man es durchzieht. "Wenn ich jemanden mit zu hoher Intensität dreimal pro Woche auf den Fahrrad-Ergometer setze, bleiben nur ganz wenige dabei", so Müller. Selbiges gilt für das Laufen. "Aber wichtig wäre ja, dass man das Training bis zum Lebensende durchhält."

Wichtig sind nicht nur die zurückgelegten Schritte, sondern auch die überwundenen Stockwerke. Auch darüber geben Tracker Auskunft. Stiegensteigen ist ein gutes Gleichgewichtstraining. Zusätzlich wird die Beinmuskulatur trainiert – und zwar nicht nur beim Rauf-, sondern auch beim Runtergehen. Diese Muskulatur sei besonders für Ältere empfehlenswert, sagt Müller: "Damit fängt man sich eher auf, wenn man das Gleichgewicht verliert."

Wichtig ist, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Das heißt: Stiegen zu steigen, statt mit dem Lift zu fahren. Das Auto stehenzulassen oder in der Mittagspause zu Fuß loszuziehen. Für einige reicht schon der gute Vorsatz, für andere funktioniert es mit einer App. "Manche werden danach süchtig, ihr Ziel zu erfüllen – im positiven Sinn", sagt Müller. Klar ist: Sportlich Ambitionierte müssen mehr machen, um fit zu werden. Aber Gehen kann ein Anfang sein.

Tipps aus dem Internet

Wer abends noch schnell das Schrittziel erfüllen will, findet online auch nicht ganz ernstgemeinte Lösungsvorschläge. Man könnte ja ein paar Hundert Runden um den Küchentisch drehen, heißt es zum Beispiel. Manche binden auch kurzerhand ihrem Hund den Tracker um und legen die Beine hoch.

Damit lässt sich die Statistik austricksen, nicht aber der Körper. Denn es zahlt sich auch bei Wind und Wetter aus, eine Runde zu drehen. "Nach einiger Zeit kommt man beim Gehen mental in einen Flow", verspricht Müller. "Man verliert negative Gedanken und fühlt sich zufriedener." Gehen wir's an. (Franziska Zoidl, 19.1.2021)