In seiner Aufgabe gleicht Nicola Gratteri dem griechischen Helden Herakles. Dieser rückte aus, um die riesigen Ställe des Augias auszumisten. Der Augiasstall, der für den Oberstaatsanwalt von Catanzaro bereitsteht, befindet sich in Lamezia Terme im süditalienischen Kalabrien.

Hier wird in einem eigens errichteten Hochsicherheitsgerichtssaal seit Mittwoch 355 Angeklagten der Prozess gemacht. Sie alle sollen Mitglied der kalabresischen Mafiaorganisation 'Ndrangheta sein und wurden dank des jahrelangen Einsatzes des bekanntesten Mafiajägers Italiens im Dezember 2019 und den folgenden Monaten verhaftet.

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Der Augiasstall steht für Gratteri bereit.
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Der Massenprozess wird mit jenem Verfahren verglichen, mit dem Ende der 1980er-Jahre die Cosa Nostra, die sizilianische Konkurrenz der 'Ndrangheta, juristisch zusammengestutzt wurde. Zwar genügte die Macht der Cosa Nostra danach noch für einen Rachefeldzug gegen die italienischen Behörden, dem 1992 die Antimafiakämpfer Giovanni Falcone und Paolo Borsellino bei Bombenanschlägen zum Opfer fielen. Dennoch erreichte die sizilianische Mafiaorganisation nach dem Prozess nie mehr ihre ursprüngliche Größe.

Staatsanwalt Nicola Gratteri bringt hunderte Mafiosi vor Gericht.
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Allerdings könnte Gratteris Job auch dem Kampf gegen die Hydra gleichen. Diesem Ungeheuer musste Herakles die Köpfe abschlagen, die aber sogleich doppelt wieder nachwuchsen. Der prominente "Pentito" ("Reuige") Gaspare Mutolo erklärte einst nach der Verhaftung des Corleoneser "Capo di tutti i capi" Bernardo Provenzano: "Wenn der Papst stirbt, kann man immer einen neuen wählen."

Schon seit April 1989 lebt Gratteri unter Personenschutz; diesen wird der 62-Jährige daher zweifellos weiterhin brauchen.

1958 in der Kleinstadt Gerace geboren, wuchs der Kalabrese mit der von der ’Ndrangheta verbreiteten Gewalt auf, zum Teil stammten sogar seine Mitschüler aus den Clans. Deshalb wendet sich Gratteri heute gezielt mit Vorträgen in Schulen an Jugendliche, um sie über die Methoden der Mafia aufzuklären und sie so vor einer kriminellen Laufbahn zu bewahren.

In Catania studierte er Rechtswissenschaften und ist seit 1986 Mitglied der kalabresischen Staatsanwaltschaft.

Das Gesetz ist für alle gleich, steht in großen Lettern an der Wand des Gerichtssaals.
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Seit vielen Jahren berichtet Gratteri, in Fernsehdiskussionen und Büchern, über seine Erfahrungen mit dem organisierten Verbrechen. Zuletzt erschien im vergangenen November "Illegaler Sauerstoff" über die Machenschaften der Mafia im Fahrwasser der Corona-Krise. (Michael Vosatka, 13.1.2021)