Ein Freiheitsgraffito am Mohamed-Bouazizi-Platz in Sidi Bouzid – der Wiege der tunesischen Revolution von 2011.

Foto: AFP / Fethi Belaid

Anlässlich des zehnten Jahrestages der Revolution steht wieder einmal die Frage im Raum: Hat Tunesien den Übergang von der Diktatur zu einer pluralistischen Demokratie erfolgreich absolviert? Seit am 14. Jänner 2011 Präsident Zine El-Abidine Ben Ali aus dem Amt gejagt wurde, hat das Land in der Tat eine beeindruckende Transformation durchgemacht. Demokratische Wahlen wurden abgehalten, Freiheitsrechte etabliert und Hoffnungen auf eine Verminderung sozialer Ungleichheiten geschürt.

Und dennoch scheint Tunesien heute in einer Sackgasse zu stecken. Schuld daran ist keineswegs die Covid-19-Pandemie alleine, ist die Gesundheitskrise doch nur ein Katalysator für seit Jahren existierende Probleme. Die Wirtschaft liegt am Boden, die sozialen Ungleichheiten zwischen den reicheren und infrastrukturell bessergestellten Küstenprovinzen und marginalisierten Regionen im Süden und Westen des Landes verschärfen sich.

Politisch ist das Land kaum noch regierbar. Das extrem fragmentierte Parlament ist de facto blockiert und seit Monaten Schauplatz teils absurder Konfrontationen zwischen verfeindeten politischen Blöcken, die für eine stabile Regierung notwendige Mehrheitsfindung in der Kammer praktisch unmöglich. Im Windschatten der Pandemie geht der nicht ansatzweise reformierte – reformunwillige – Sicherheitsapparat zudem verstärkt repressiv gegen Proteste und Streiks vor.

Repression gegen Proteste

Erst am Wochenende reagierten Polizeikräfte auf eine Demonstration von Anhängern des populären Fußballvereins Club Africain in Tunis mit Gewalt und ließen rund 300 Fans – darunter Berichten zufolge 209 Minderjährige – vorübergehend verhaften. Schon seit Beginn der Corona-Krise setzen Sicherheitskräfte im Umgang mit sozioökonomisch motivierten Protesten und Streiks im Süden und Westen des Landes zunehmend auf repressive Taktiken, allen voran in den Erdöl- und Phosphatförderregionen Tataouine und Gafsa.

Derlei Proteste sind zwar seit Jahren im Aufwind, doch Covid-19 hat die Dringlichkeit von Reformen exponentiell verstärkt. Schon seit 2011 warten die Menschen in West- und Südtunesien auf spürbare Verbesserungen in Sachen medizinischer Infrastruktur, Arbeitslosigkeit und Wasserversorgung, wurden von Tunesiens politischen Eliten im weit entfernten Tunis aber konsequent mit – bisher leeren – Versprechungen abgespeist.

Die jüngsten Generalstreiks in mehreren vernachlässigten Provinzen im Inland waren auch deshalb kaum überraschend. Schon wird vor einer zweiten Welle der Revolution gewarnt. Die jährlich rund um den Jahrestag der Revolte abgehaltenen Proteste drohten 2021 in eine ernst zu nehmende Mobilisierung umzuschlagen.

Entsprechend nervös reagierte Regierungschef Hichem Mechichi, er erließ kurzerhand einen ab heute geltenden viertägigen landesweiten Lockdown. Die Regierung legitimiert die Maßnahme mit dem Gesundheitsnotstand, konnte bisher aber nicht schlüssig erklären, warum der Lockdown erst jetzt – pünktlich zum Jahrestag der Revolution – kommt. Mediziner und Ärztevereinigungen schlagen schließlich angesichts der konstant hohen Infektionszahlen schon seit Wochen lautstark Alarm. Trotz Ausgangssperre und anderer Restriktionen drohe ein Kollaps des Gesundheitssystems, hieß es immer wieder. Doch die Regierung reagierte nicht. Bis jetzt.

Auf der Suche nach neuen Krediten

Die Perspektiven für eine gesamtwirtschaftliche Erholung sind ebenso düster. Corona hat Tunesiens überlebenswichtigen Tourismussektor praktisch kollabieren lassen und die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich verschärft. Das Land braucht zudem dringend frische Kredite und wird sich in Kürze auf dem internationalen Finanzmarkt neu verschulden müssen. Erste Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), mit dem Tunesien schon 2016 ein an wenig vorteilhafte Bedingungen geknüpftes Kreditabkommen geschlossen hatte, fanden bereits statt.

Währenddessen versuchen Staatspräsident Kaïs Saied und der Gewerkschaftsdachverband UGTT zumindest in Sachen politischer Blockade einen Ausweg einzuleiten. Der geplante Nationale Dialog soll politische Gräben überwinden und überparteilichen Vereinbarungen den Weg ebnen. Doch die Initiative stockt und droht zu scheitern.

Vor allem eine Partei profitiert vom Chaos im Parlament und treibt die Schlammschlachten gar aktiv voran: die Ben Ali nahestehende Freie Destur-Partei (PDL) von Abir Moussi. Ihre Nähe zum alten Regime schadet ihr dabei keineswegs, ihre Forderung nach einer Rückkehr zu einem Präsidialsystem findet angesichts der anhaltenden politischen Blockade immer mehr Unterstützer. Aktuellen Umfragen zufolge wird die PDL bei der nächsten Wahl massiv an Stimmen gewinnen. Ein autoritärer Rollback ist demnach keine ferne Zukunftsdystopie, sondern durchaus möglich. (Sofian Philip Naceur, 14.1.2021)