Die Pflege ihres Verlobten hat eine 60-Jährige vor Gericht gebracht. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hat sie den Mann vernachlässigt und hätte seinen Tod verhindern können.

Foto: Heribert Corn

Wien – "Mach ma noch Weihnachten, und dann gemma ins Spital", habe sie zu ihrem Verlobten im Dezember 2018 gesagt, erzählt Maria H., die sich vor einem Schöffengericht unter Vorsitz von Daniel Potmesil wegen des Vernachlässigens wehrloser Personen verantworten muss. Denn H. fuhr mit dem nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmten 60-Jährigen nach den Feiertagen nicht ins Krankenhaus – am 15. Jänner 2019 starb er im Bett der gemeinsamen Wohnung. An Herz-Kreislauf-Versagen infolge einer nicht behandelten Hirnhaut- und Lungenentzündung, ergab die Obduktion.

Selbst der Staatsanwalt wirft in seinem Eröffnungsplädoyer der 60-jährigen Pensionistin keine Böswilligkeit vor. Denn 14 Jahre lang hat sie ihren Verlobten daheim gepflegt. Nur einmal, als sie 2012 wegen eines Knöchelbruchs selbst ins Krankenhaus musste, organisierte sie einen mobilen Pflegedienst. Diese Betreuung wollte der Patient aber nicht, er habe regelrecht Angst vor manchen Pflegerinnen gehabt, erzählt die unbescholtene Angeklagte. Auch vor einem Spitals- oder Heimaufenthalt habe ihm gegraut.

Im Tanzcafé kennen und lieben gelernt

Ein Jahr nach ihrer Scheidung habe sie Herrn S. 1988 in einem Tanzcafé kennengelernt, ein Jahr später folgte die Verlobung, 1990 kam der gemeinsame Sohn zur Welt. "Ich war Kindergartenhelferin, jetzt heißt das ja anders, und habe gut verdient", erinnert sich die Angeklagte. Aus Liebe zu S. sei sie aber nach Wien gezogen. 2002 habe sie nochmals zu arbeiten begonnen, zwei Jahre später folgte der massive Schlaganfall. S. konnte kaum mehr sprechen, seine rechte Körperhälfte war gelähmt, er konnte sich nur noch mühsam fortbewegen.

Pflegegeld beantragte die Familie erst im Jahr 2012. "Da war eine Dame von der Stadt da, die hat gefragt, warum wir das nicht schon längst gemacht haben. Auch zum Arzt bin ich immer gegangen, wenn er wundgelegen war oder Fieber bekommen hat, und habe ihm dann die Medikamente gegeben", erzählt die Angeklagte. Sie kümmerte sich nur noch um die Kindererziehung und Pflege, heute bekommt sie 400 Euro Pension, mit Ausgleichszulage und Mietbeihilfe hat sie im Monat rund 1.000 Euro zum Leben.

"Wie ist es Ihnen dabei gegangen? War es sehr anstrengend?", will der Vorsitzende von Frau H. wissen. "Sicher, es waren manchmal Situationen ..., aber wenn er mich dann wieder angesehen hat – so dankbar. Es war normal", fasst die Angeklagte zusammen.

Sohn erscheint nicht als Zeuge

Hilfe bekam sie nicht. Ihr Sohn, dessen Facebook-Profil ihn mit seiner Gattin beim Opernballbesuch zeigt, sei irgendwann gar nicht mehr zu Besuch gekommen. Auch dem Prozess gegen seine Mutter bleibt der Security-Mitarbeiter unentschuldigt fern, obwohl er als Zeuge geladen ist. "Er hat sich wegen mir geniert", glaubt die Angeklagte und gibt zu, dass sie ein Messie gewesen sei. Nur das Krankenzimmer ihres Verlobten habe sie immer aufgeräumt.

Vorsitzender Potmesil geht das gerichtsmedizinische Gutachten durch. Diesem zufolge seien Finger- und Zehennägel bei S. monatelang nicht geschnitten worden. "Ja, es war nicht mehr so oft", gibt H. zu, das habe aber nur die gelähmte Seite betroffen, da er nicht mehr mithelfen konnte. Auch die tiefen Aufliegegeschwüre habe sie natürlich bemerkt. Die habe er aber schon früher gehabt, mit einer Salbe des Hausarztes seien diese immer verschwunden.

"Sein Lebenswille hat aufgehört"

"Ich frage ganz direkt: Haben Sie irgendwann einfach nicht mehr können?", will der Vorsitzende von der Angeklagten wissen. Sie weicht aus. "Sein Lebenswille hat aufgehört. Nach seinem 60er im August 2018. Er hat gesagt, er will nicht mehr leben", schildert sie unter Tränen. Es sei mit S. bergab gegangen, er sei inkontinent geworden und wollte nicht mehr so viel essen. Zu Weihnachten 2018 habe sie noch einen Baum geschmückt, das habe ihm gefallen. Vielleicht hätte sie auf einem Arztbesuch bestehen sollen, aber er wollte ja keine Fremden sehen, entschuldigt H. sich.

Am 15. Jänner 2018 habe sie noch mit ihrem Verlobten gesprochen, erzählt die Angeklagte. "Es war dienstags. Dienstags ist nie was Gescheites im Fernsehen. Ich habe ihm seinen Himbeersaft gebracht, den hat er nicht ganz ausgetrunken. Ich habe ihm gesagt, dass ich schnell die Wäsche mache und er ihn dann austrinken soll. Wie ich zurückgekommen bin, habe ich geglaubt, er schläft. Ich habe mich hingesetzt und ihm das Fernsehprogramm vorgelesen." Es liefen nur Wiederholungen. "Ich habe dann gesagt, dass wir heute Abend besser Radio hören. Dann habe ich noch gesagt: 'Schatz, jetzt trinkst aber schon den letzten Rest vom Himbeersaft.' Aber er hat nicht reagiert. Dann habe ich bei ihm ein Auge aufgemacht – und er war schon tot. Einfach eingeschlafen", schildert H., von Weinkrämpfen unterbrochen.

Jahrelange penible Aufzeichnungen

Verteidiger Martin Dohnal fordert seine Mandantin noch auf, dem Gericht eine Auswahl ihrer Kalender zu zeigen – zurückreichend bis 2013 hat H. täglich penibel Körpertemperatur, Blutdruck, Puls und Stuhlgang ihres Verlobten festgehalten. "Den Stuhl am Ende nicht mehr, da hat er dann nicht mehr sein Pfeiferl betätigt, sondern einfach in die Einlage gemacht", verrät die Pensionistin noch.

Mit Elisabeth Grna erstattet auch eine Sachverständige ihr Gutachten im Prozess. "Frau Diplomkrankenschwester – -pflegerin, Entschuldigung," leistet sich der Vorsitzende einen kleinen Lapsus, als er Grna auf den Zeugenstuhl bittet. Sie ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und berichtet beispielsweise, dass Aufliegegeschwüre recht rasch entstehen können und selbst in betreuten Einrichtungen auftreten. "Was hätte Frau H. machen müssen, als sie dann aber im Sommer merkte, dass es Herrn S. schlechter geht?", will Potmesil wissen. "Sie hätte sich rechtzeitig Beratung holen müssen. Jemanden für Wundmanagement zum Beispiel. Es gibt da auch mobile Angebote."

Keine Diversion möglich

Verteidiger Dohnal fordert in seinen Schlussworten einen Freispruch von H., da sie sicher keinen Vorsatz gehabt habe, ihren Verlobten zu vernachlässigen. Außerdem wisse man nicht, ob S. nicht ohnehin gestorben wäre, auch das gerichtsmedizinische Gutachten komme da zu keinem eindeutigen Ergebnis. Dass der Gesetzgeber selbst beim Tod eines nahen Angehörigen de facto keine Diversion erlaubt, nimmt der Jurist bedauernd zur Kenntnis.

Das Gericht folgt nach über einer halben Stunde Beratung schließlich nicht dem Staatsanwalt. Sondern verurteilt H. rechtskräftig wegen grob fahrlässiger Tötung zu fünf Monaten bedingter Haft. "Auch für den Schöffensenat war das kein einfaches Verfahren", begründet der Vorsitzende. Die Angeklagte habe aus Sicht des Gerichts eindeutig keinen Vorsatz gehabt, ihren Verlobten zu vernachlässigen, pflichtet Potmesil dem Verteidiger bei. Dennoch: Ein Mensch sei gestorben, da H. sich keine Hilfe geholt habe. "Sie hätten es besser machen müssen, so schwer das klingt", mahnt der Vorsitzende und verweist noch auf die generalpräventive Wirkung der Strafe. Frau H. bedankt sich, wünscht den Beteiligten noch viel Glück und Gesundheit und verlässt den Saal. (Michael Möseneder, 15.1.2021)