Donald Trump fühlt sich wohl im Dunklen, wie er bei einer Wahlkampfveranstaltung 2016 lustvoll demonstrierte. Wer die Szenerie ausleuchten will, ist ein Feind.

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Die Szene ist düster. Schauplatz: das Georgia World Congress Center in Atlanta an einem Sonntagnachmittag im Februar 2016. Hinter dem Rednerpult steht der Immobilien- und Medienunternehmer Donald Trump, der sich in der Republikanischen Partei gerade für die US-Präsidentschaftskandidatur bewirbt und vielen zu diesem Zeitpunkt noch als Außenseiter gilt.

Trump hält eine seiner berüchtigten Wahlkampfreden, verwandelt die Tribüne in einen Hexenkessel, peitscht sein Publikum emotional auf und wettert gerade gegen "kriminelle" Migranten, als im Saal plötzlich das Licht ausfällt.

Was nun kommt, gibt einen Vorgeschmack darauf, wie der spätere Präsident Konventionen des öffentlichen Diskurses zertrampeln wird; wie er ein gesellschaftliches Klima schaffen wird, in dem das Getöse das Gespräch erstickt, und letztlich auch den Nährboden schafft für die gewaltsame Erstürmung des Kapitols knapp fünf Jahre später: Einen eben begonnenen Satz über Migranten in "unseren Gefängnissen" bricht Trump spontan ab, um sich noch im selben Atemzug am Halbdunkel im Saal von Atlanta zu ergötzen. "Aaah, viel besser! Dieses Licht vorhin war brutal! Ist es von der unehrlichen Presse gekommen?"

Fingerzeig auf Feinde

Wie so oft, wenn er vor vielen Leuten auftritt, streckt Trump dabei seinen Zeigefinger von sich. Diesmal freilich ist es nicht die Geste, mit der er (wie viele andere Politiker auch) gerne so tut, als hätte er in der Menge gerade seinen besten Kumpel entdeckt. Das hier ist eine Geste der Feindseligkeit. Sie klagt an, sie wiegelt auf.

Trumps Finger zeigt in den hinteren Teil des Saals, dorthin, wo die Fernsehkameras und die akkreditierten Medienleute stehen. Die Botschaft: Dort könnt ihr sie sehen, die Feinde. Es sind meine Feinde, also sind es auch eure Feinde. Feinde, die dreist genug sind, meine Wahrheiten an ihrer Wirklichkeit zu messen – um damit am Ende euch zu betrügen.

Inzwischen wurde wohl irgendwo hinter den Kulissen eine Sicherung reingedreht. Das Licht im Saal geht wieder an – für Trump Majestätsbeleidigung. "Nein, dreht diese Scheinwerfer ab! Sie sind zu hell!", schreit er. Instinktiv wittert er eine weitere Gelegenheit, sein Publikum mitzureißen. Zusammengekniffene Augen, gespitzter Mund: Trump setzt seine Kampfmiene auf und beginnt zu skandieren: "Let’s go: Turn off the lights! Turn off the lights!" Die Menge stimmt enthusiastisch ein: "Turn off the lights!" – "Schaltet das Licht ab!"

Gute Stimmung im Halbdunkel

Als es wieder dunkel wird, herrscht endgültig Rockkonzertstimmung. Und Trump? Der kriegt locker wieder die Kurve zur Politik: "Genau das ist der Weg, wie wir auch für unser Land verhandeln müssen!", ruft er in die johlende Menge.

So sieht er also aus, der "Weg", den Trump schon damals beschreiten wollte: Er selbst bestimmt die Richtung, die Menge trägt ihn. Das geht ganz gut im Dunklen. Trump braucht nur seinen eigenen Kompass. Kein "brutales" Licht. Und schon gar keine "unehrlichen" Beobachter, die ihn darauf hinweisen, dass ein anderer Weg vielleicht besser sein könnte als seiner.

Der Mann mag auch heute noch ein Gespür haben für die Gefühlslage vieler Menschen im Land. 74 Millionen Stimmen bei der Präsidentschaftswahl 2020 sind zwar deutlich weniger als die, die sein demokratischer Herausforderer Joe Biden auf sich vereinen konnte. Doch es sind auch deutlich mehr Trump-Stimmen als noch 2016 – ein eindrucksvoller Beleg für die wachsende Anhängerschaft, die er sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hat.

Trotzdem darf bezweifelt werden, dass Trump im Halbdunkel von Atlanta auch nur ansatzweise geahnt hat, wie gut sein Ruf nach weniger Licht die Kluft in der Gesellschaft illustriert – nicht nur in der US-amerikanischen.

Posieren mit der Bibel

Es geht dabei längst nicht nur um die Inszenierung eines publikumswirksamen Kampfes zwischen Gut und Böse, Freund und Feind, "uns" und "ihnen". Und es geht auch nicht bloß um die vielfach beschriebene Polarisierung zwischen Stadt und Land, Liberalen und Konservativen, Globalisierungsgewinnern und Abgehängten. Die Gretchenfrage ist, wie man es mit dem Glauben hält.

Religion, die in der Politik seit jeher kräftig mitmischt, ist da nur einer von vielen Aspekten. Klar, auch Trump setzte immer wieder auf die Wirkmacht christlicher Symbolik – etwa im Juni 2020, als er vor dem Weißen Haus Sicherheitskräfte gegen eine Black-Lives-Matter-Kundgebung aufmarschieren ließ, um gleich gegenüber, bei der St.-John’s-Kirche, mit einer Bibel in der Hand als vermeintlicher Hüter von Recht und Ordnung zu posieren.

Mit der Auswahl seines erzkonservativen Vizepräsidenten Mike Pence hatte der eher für vulgäre und sexistische Sprüche als für Frömmigkeit bekannte Trump zudem von Anfang an versucht, die Brücke zu den einflussreichen Evangelikalen im Land zu schlagen.

Und auch die Predigerin Paula White sollte Trump als enge Vertraute und religiöse Beraterin die Unterstützung Gottes sichern – oder zumindest jene des einschlägigen Wählersegments.

Noch während der Auszählung der Stimmen im November 2020 sprach sie in einem Gottesdienst von vermeintlichem Wahlbetrug und beschwor in einem ekstatisch anmutenden Wortschwall den "Klang des Sieges" und die "Macht des Herrn" gegen die "Dämonen", die sich der Wahl Trumps entgegenstellen würden.

Echo aus "sozialen Medien"

Dennoch ist es heute vielmehr der Glaube an herbeifantasierte Trugbilder aus der Trickkiste der Demagogen, der Glaube an einfache Antworten auf komplexe Fragen, ja der Glaube an Verschwörungstheorien, der – gefestigt in den Echokammern der "sozialen Medien" – zur Waffe im Kampf um die Macht geworden ist. Sein Fundament ist das unbedingte Festhalten an der eigenen Wahrheit – auch und gerade dann, wenn diese der Wissenschaft widerspricht: Das Tauziehen um die Deutungshoheit in der Klimakrise führt uns das seit Jahren vor Augen, der Streit um die Corona-Politik seit Monaten.

So gesehen klingt Donald Trumps "Turn off the lights" nach einer Antithese zur Aufklärung (auf Englisch Enlightenment!), nach einer Kampfansage an die Ideale jener Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts, die – einmal mehr – den Weg frei machen wollten für die Anerkennung rationalen Denkens als menschliches Erkenntnis- und Urteilsprinzip.

Mit ungewollt scharfen Konturen spiegelt sich in der Szene von Atlanta der Kampf um die Seele der Gesellschaft wider. Ganz so, wie in Thomas Manns epochalem Roman Der Zauberberg (1924) zwei Männer um die Seele des jungen Protagonisten Hans Castorp buhlen: Settembrini, der Mann der Wissenschaft, der Humanist, der in der Vernunft die Basis zur Emanzipation des Einzelnen sieht; und Naphta, der Kollektivist und religiöse Dogmatiker, für den das menschliche Tasten nach Erkenntnis nichts weiter ist als ein gleichermaßen arroganter und lächerlicher Versuch, die Augen vor ewiggültigen Wahrheiten zu verschließen.

Vernunft und Glaube

Dass die Handlung am Vorabend des Ersten Weltkriegs angesiedelt ist, dass sich der intellektuell feinsinnige, doch erbitterte Kampf der beiden entfesselt, während Europa fiebernd in die Katastrophe taumelt, vermittelt ein Gefühl für die universelle Bedeutung dieses Spannungsverhältnisses. Hier kreuzen nicht einfach zwei belesene Herren rhetorisch die Klingen, um vor der jungen Generation zu prahlen. Hier geht es buchstäblich um die Zukunft der Menschlichkeit, die schließlich auf dem Altar des Nationalismus geopfert wird.

Einem ähnlich gepolten Paar – den mittelalterlichen Philosophen Ibn Ruschd (besser bekannt als Averroes) und Al-Ghazali – hat 2015 Salman Rushdie in seinem Roman Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte zu neuer literarischer Geltung verholfen. Tausendundeine Nacht verstecken sich hinter dem Titel der Geschichte, in der der alte Streit zwischen Glauben und Vernunft neu ausbricht.

Trump tritt ab, die Rede von "alternativen Fakten" bleibt.
Foto: AFP / Joshua Lott, Saul Loeb

Die Lebensdaten der beiden Denker des elften und zwölften Jahrhunderts überschneiden einander in Wirklichkeit nicht. Doch auch hier ist es das universelle Prinzip, das zählt – und das es dem Autor erlaubt, Ibn Ruschd und Al-Ghazali aus ihren Gräbern heraus miteinander streiten zu lassen.

Einer der Hauptschauplätze ist ohnehin das New York der Gegenwart, wo sich ein Spalt in der Wirklichkeit auftut, durch den die Dschinn in die Menschenwelt kommen – bösartige Geister, die das moderne Leben mit aus Unvernunft gespeistem Chaos konfrontieren. Mit der bunten Märchenwelt, die Salman Rushdie schafft, bedient er lustvoll die westlichen Klischeebilder von den Zauberern des Orients. Ein zentrales Motiv seiner Arbeit verwischt er dabei jedoch nie: seine Gegnerschaft zu jenen religiösen Fanatikern, die auch im 21. Jahrhundert gegen Bildung und Aufklärung zu Felde ziehen.

Andeutungen, Halbwahrheiten und Lügen

Natürlich sind die literarischen Abhandlungen über die Urspannung zwischen intellektuellem und emotionalem Erfahrungshorizont, zwischen analytischer Annäherung an die Wirklichkeit und der Sehnsucht nach Transzendenz nur deshalb möglich, weil den Menschen eben beides ausmacht. Keine Seite der Medaille ist wichtiger als die andere. Genau deshalb aber ist die Unterdrückung des einen durch das andere nicht hinnehmbar.

Ebenso wenig wie der Geltungsanspruch einer politischen Wahrheit, die auf "alternativen Fakten" beruht und alles andere als "Fake-News" diskreditiert. Abstruse Verschwörungstheorien gegen politische Gegner, Leugnung des Klimawandels, Verharmlosung von Covid-19: Donald Trump hat all das immer wieder befeuert – durch Andeutungen, Halbwahrheiten und Lügen.

Muss man diese erst widerlegen, um ihnen entgegentreten zu dürfen? Nein, denn die Vernunft bewegt sich auf einem anderen Spielfeld. Sie zweifelt immer an ihrer eigenen Voraussetzung. Sie stellt Fragen, statt nur nach Bestätigung zu suchen. Sie hat den Zweifel quasi in der DNA. Nur durch Zweifel ist auch wissenschaftlicher Fortschritt möglich, während die Marktschreier auf dem Basar der "alternativen Fakten" die Wahrheit a priori für sich beanspruchen – oder zumindest so tun als ob.

Wo die Filterblasen der "sozialen Medien" zu Kathedralen der Selbstbestätigung werden, gibt es Zweifel nur noch an den anderen – und, wenn es sein muss, an der Rechtmäßigkeit einer Wahl, deren Ergebnis dem Amtsinhaber nicht in den Kram passt. Mit seinen durch nichts belegten Betrugsvorwürfen hat Trump weniger den Wahlsieger Joe Biden diskreditiert als vielmehr die Grundlage der US-Demokratie.

Verachtung für Machtbalance

Am Ende steuerte er mit der Anstachelung des Mobs, der kurz vor Ablauf seiner Amtszeit das Kapitol stürmte, auf den politischen und moralischen Tiefpunkt seiner Präsidentschaft zu. Bilanz: fünf Tote und eine nachhaltige Beschädigung des Vertrauens in das – auf gegenseitiger Akzeptanz beruhende – Gleichgewicht der Institutionen.

Zu Tausenden waren Trumps Anhänger nach Washington gekommen, ihrem Idol und seiner Erzählung von der "gestohlenen Wahl" folgend. Dutzende Gerichtsentscheidungen, die die Vorwürfe des Wahlbetrugs zurückgewiesen haben – für Trump und seine Fans sind sie allesamt irrelevant. Was zählt, sind nicht die etablierten Mechanismen der Machtbalance, sondern einzig und allein kaltschnäuzige Selbstgewissheit. Dass manche sich mit ihren Transparenten dabei gleich auf Jesus beriefen, ist nur ein weiterer Beleg der Pervertierbarkeit des Glaubens im Sinne einer angeblich absoluten Wahrheit – so religionsfern diese auch sein mag.

Der angegriffene Ort, das Kapitol, Sitz beider Parlamentskammern der USA, könnte kaum symbolträchtiger sein: Es ist der Ort der Debatte. Und Debatten sind es, die den Allmachtsfantasien Donald Trumps immer schon im Wege standen. Erst recht an dem Tag, an dem Senat und Abgeordnetenhaus in einem demokratischen Prozedere die Wahl Joe Bidens bestätigen sollten, während draußen bereits der Mob tobte.

Der Geist ist aus der Flasche

Das ausgeschaltete Licht von Atlanta war der vermutlich unbeabsichtigte, doch instinktgetriebene Vorbote einer Machtstrategie, in der Zweifel keinen Platz finden, in der Widerspruch nie erhellend sein kann. Für dieses Mal ist sie gescheitert – knapp, aber spektakulär.

"Turn on the lights", möchte man Joe Biden nun zurufen. Licht an! Doch leicht wird das nicht. Donald Trump ist lediglich ein – zugegeben recht schrill geratenes – Produkt unserer Zeit. Wer Demokratie bewahren will, muss künftig nicht nur um soziale Gerechtigkeit ringen, sondern auch um eine Kommunikationskultur, in der der Austausch von Argumenten nicht zum Minderheitenprogramm wird.

Mit dem Sperren von Menschen auf ein paar Plattformen der "sozialen Medien" wird es nicht getan sein. Man mag sich trefflich streiten über den richtigen Weg in die Zukunft. Nur im Dunklen sollte man dabei nicht tappen. Denn die Geister der alternativen Fakten und der angemaßten Wahrheiten, sie sind längst aus der Flasche. (Gerald Schubert, 16.1.2021)