Wenn heute, am 22. Jänner der Nuklearwaffenverbotsvertrag offiziell in Kraft tritt, hat die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican) einen weiteren Meilenstein erreicht. Die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Initiative hat weltweit einen Stein ins Rollen gebracht. Die Ican wird künftig aber vor allem daran gemessen werden, ob ihr irgendwann tatsächlich Nuklearwaffenstaaten beitreten oder zumindest solche, die unter deren Schutz stehen. Ican-Direktorin Beatrice Fihn erklärt im STANDARD-Interview, wie das funktionieren soll und warum Atomwaffen den Schutz der Bevölkerung lähmen.

STANDARD: Sie haben in den vergangenen zehn Jahren viel erreicht. Gleichzeitig schlägt das Pendel wieder sehr stark in Richtung Aufrüstung. Wie ist Ihr Resümee?

Fihn: Wie in vielen anderen Bereichen der Welt sind wir gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen marschiert. Die negative Richtung ist eng verbunden mit dem Aufstieg von Populismus, Autoritarismus und antidemokratischen Tendenzen. Nuklearwaffen sind wieder zu einem Machosymbol geworden, diese schrecklich-prahlerische Rhetorik. Gleichzeitig gibt es natürlich positive Signale aus Ländern, die die humanitären Konsequenzen von Atomwaffen in den Mittelpunkt stellen, wo sich Politiker gegen die Bombe aussprechen und Regierungen den Verbotsvertrag angenommen haben. Wir haben also eine Gegenbewegung der Mehrheit der Staaten gegen diese steigende Bedrohung.

STANDARD: Aber haben Sie keine Sorge, dass Ihre Initiative an Momentum verliert, wenn keine Nuklearwaffenstaaten und keine "Schutzschirmstaaten" beitreten?

Fihn: Nukleare Abrüstung ist ein langfristiges Projekt. Das wird nicht schnell gehen. Die "Schutzschirmstaaten" sind wirklich der nächste Kampf für uns. Wir haben den Vertrag und die Nichtnuklearwaffenstaaten hinter uns vereint. Jetzt müssen wir jene erreichen, die Atomwaffen nach wie vor unterstützen. Aber der Vertrag wird kurzfristig auch ohne die Nuklearwaffenstaaten stark sein und seine Wirkung entfalten. Aber natürlich wollen wir sie auch eines Tages zum Beitritt bewegen.

"Join the ban" (Tritt dem Verbot bei) lautet der Schlachtruf der Atomwaffengegner.
International Campaign to Abolish Nuclear Weapons

STANDARD: Es heißt oft, es müsse sich erst etwas massiv verschlechtern, damit etwas voranschreiten kann. In Bezug auf Nuklearwaffen erscheint das recht gefährlich.

Fihn: Die Menschheit tut sich schwer damit, Dinge zu priorisieren, die sie nicht sieht, die sie nicht berühren kann. Wir haben das beim Klimawandel gesehen. Wir haben das bei Pandemien gesehen. Erst wenn man die Auswirkungen spürt, setzt sich etwas in Bewegung, und man will es stoppen. Als wir diese Bewegung begonnen haben, befanden wir uns tatsächlich in einer ganz anderen Situation. Obama und Medwedew hatten gerade New Start unterzeichnet, Obamas Prag-Rede (in der er ein Ende aller Atomwaffen forderte, Anm.) versprühte Hoffnung. Da war es schwer, Menschen dafür zu sensibilisieren, wie präsent die Gefahr immer noch ist. Um etwas zu unternehmen, müssen die Leute begreifen, wie ernst das ist und dass jederzeit etwas passieren kann.

STANDARD: Was könnten Sie den Nuklearwaffenstaaten in Verhandlungen anbieten?

Fihn: Man muss einmal sehen, wie Kriege heutzutage geführt werden. Es werden Unmengen an Ressourcen verschwendet für eine wahninnig schlecht einsetzbare Waffe in den Konflikten von heute. Die Militärs konzentrieren sich auf Cyberattacken und die Integration künstlicher Intelligenz, Präzisionslenkwaffen – alles Dinge, die eher in niederschwelligen Konflikten zum Einsatz kommen. Russland droht nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen, sondern manipuliert per Facebook die öffentliche Meinung. Es ist eine neue Welt. Sich an Waffensysteme von 1945 zu klammern hilft Staaten nicht gerade dabei, ihr Volk zu schützen. Es passt nicht zu den Bedrohungen eines modernen Staates. Knapp 400.000 US-Amerikaner sind an Corona gestorben. Sie schaffen es offensichtlich nicht, ihre eigenen Leute zu schützen. Nuklearwaffen tragen aktuell nichts zu deren Sicherheit bei, eher schaden sie ihnen noch, weil das Geld, das für Nuklearwaffen reserviert ist, für das Gesundheitssystem hätte ausgegeben werden können. Gleiches gilt für eine der größten Sicherheitsherausforderungen der Zukunft, den Klimawandel. Nuklearwaffen werden das Klima nicht retten, auch nicht unsere Demokratien. Ein moderner Staat sollte das bedenken.

STANDARD: Joe Biden und Wladimir Putin werden den Rüstungskontrollvertrag New Start wohl verlängern. Entscheidend wird ein mögliches Folgeabkommen sein. Was sollte es realistischerweise beinhalten?

Fihn: Russland und die USA sind natürlich meilenweit davon entfernt, unserem Vertrag beizutreten. Das müssen sie aktuell auch nicht. Aber sie sollten Anreize haben, die Stückzahl ihrer atomaren Sprengköpfe zu reduzieren, da wünschen wir uns Gespräche. Eine Verlängerung von New Start alleine bringt uns nichts – sie behält nur den Status quo bei. Die Arsenale sind nach wie vor riesig, dabei könnte ihr Umfang leicht drastisch reduziert werden. Aber wir wollen nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Reduktion. Dass es etwa Flugzeuge samt deutschen Soldaten gibt, die atomar bestückt sind und in Europa einen Atomkrieg führen könnten, das sollten wir nicht mehr tun. Wenn es nur um die Abschreckung geht, könnte man sich die sparen.

STANDARD: Wenn Sie einen Satz hätten, um das Argument zu entkräften, dass Nuklearwaffen Frieden und Stabilität bringen – welcher wäre das?

Fihn: Nukleare Abschreckung wird auf Dauer nicht gutgehen! Sie geht davon aus, dass alle politischen Leader immer rational agieren werden, keine Fehler machen und auch keine Unfälle passieren. Nuklearwaffen werden eines Tages eingesetzt werden, wenn wir sie beibehalten, und wir sind in keiner Form darauf vorbereitet. Wir waren verdammt glücklich die letzten 75 Jahre, dass nicht mehr passiert ist. Wenn du glaubst, Atomwaffen sind wichtig, dann musst du auch auf den Atomkrieg vorbereitet sein. Und das sind wir nicht. (Fabian Sommavilla, 22.1.2020)