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"Don't let it define you", sagte Joe Biden im Wahlkampf zu Brayden Harrington über sein Stottern.

Foto: AP/Andrew Harnik

Der Tag seiner Angelobung ist der Höhepunkt in der langen Karriere des neuen US-Präsidenten Joe Biden. Auf seine Antrittsrede wird er sich vermutlich so vorbereiten wie auf alle seine öffentlichen Reden: Er wird sie in ganz kurze Abschnitte unterteilen und sich in seinen Notizen Pausen einzeichnen. Biden wendet solche Tricks an, um sich beim Sprechen nicht zu stressen. Denn er hat als Kind und Jugendlicher stark gestottert. Das begleitet den 78-Jährigen bis heute.

"Joe Biden hat gelernt, mit seiner Sprechstörung umzugehen", sagt die Logopädin Burgi Wallner-Payr von der Innsbrucker Universitätsklinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen. Wer nichts davon weiß, bemerkt diese in den meisten seiner Reden nicht. Professionelle Hilfe hat Biden nie in Anspruch genommen. Geholfen hat ihm aber, wie er erzählt, die Unterstützung seiner Mutter, aber auch viele Stunden, in denen er sich selbst in der Nacht Gedichte vor dem Spiegel aufgesagt hat.

Laut Schätzungen stottert ungefähr ein Prozent der Menschen weltweit. Dabei handelt es sich um eine Störung des Redeflusses, die sich in Blockierungen, druckreichen Wiederholungen von Silben oder Lauten beziehungsweise Dehnungen bestimmter Laute äußert. Dafür gibt es neurophysiologische Ursachen. Bei Betroffenen sind bestimmte Faserbahnen in der linken Gehirnhälfte schwächer entwickelt, erklärt Wallner-Payr. Häufig gibt es auch genetische Faktoren, die eine Rolle spielen.

Telefonieren als Herausforderung

Biden selbst geht offen damit um. Nur wenn er müde ist, so Biden im Wahlkampf, stottere er mehr. In hitzigen TV-Debatten bemerkte man manchmal, dass er Probleme hatte, bestimmte Worte auszusprechen. Donald Trump und Mitglieder seiner Familie haben sich im Wahlkampf darüber lustig gemacht und ihm das als Altersschwäche ausgelegt.

Dass sich andere über sie lustig machen oder sie erhöhten Stress und Druck in der Kommunikation erfahren, erleben viele Betroffene. Darum kommen zur Kernsymptomatik – den Schwierigkeiten beim Sprechen – bei den meisten auch noch andere Probleme dazu: Sie trauen sich durch ihr Stottern nicht mehr, vor anderen zu sprechen, vermeiden entsprechende Situationen und werten sich selbst ab, berichtet Wallner-Payr. Telefonieren ist für die meisten eine große Herausforderung. "Viele ziehen sich immer mehr zurück", sagt die Expertin. "Das Stottern wird so für viele zum alles bestimmenden Merkmal."

Diese Erfahrungen hat auch Joe Biden gemacht. In seinem Wahlkampf lernte er den 13-jährigen Brayden Harrington kennen, der selbst stottert: "Don't let it define you", riet der nunmehrige US-Präsident dem jungen Mann vor laufenden Kameras. Später zeigte er ihm, wie er sich auf öffentliche Auftritte vorbereitet. Schließlich sprach der junge Mann sogar bei der Democratic Convention, bei der Biden offiziell als Präsidentschaftskandidat nominiert wurde.

Bestimmte Sprechtechniken

"Es ist wichtig, aus der Vermeidung zu kommen", sagt Logopädin Wallner-Payr. Es sei entscheidend, dass sich Betroffene trauen, zu sprechen – auch wenn sie dabei stottern. Die Logopädin berichtet zum Beispiel von einer jungen Frau, der es schon geholfen hat, das Problem vor Freundinnen offen anzusprechen. In der Folge konnte sie dann üben, lauter als gewohnt zu sprechen und damit mehr Raum beim Sprechen einzunehmen.

Anderen Menschen helfen Sprechtechniken, etwa ein weicher Sprechbeginn, erklärt Wallner-Payr, "also in den Anfang eines Wortes weicher hineingehen". Eine weitere Methode ist, den Druck beim Sprechen zu reduzieren, wenn man merkt, dass sich eine Blockade entwickelt. Hilfreich kann auch eine Reduktion des Sprechtempos sein.

Das klingt nach viel Arbeit. Eine Therapie kann mehrere Jahre dauern, sagt Wallner-Payr: "Aber das Gute ist, dass diese Tricks und Sprechhilfen immer mehr zur Routine werden und man dafür immer weniger Konzentration braucht." Auch durch ein wachsendes Selbstbewusstsein reduziert sich häufig die Symptomatik.

Hilfe suchen

Eltern empfiehlt Wallner-Payr, schnell Rat zu suchen, wenn sie glauben, ihr Kind stottert: "Es ist wichtig, sofort anzusetzen – und nicht zu warten, bis das Kind sich zurückzieht." Oft können besorgte Eltern beruhigt werden. Es gibt eine Phase, in der manche Kinder beim Sprechen sogenannte "entwicklungsbedingte Unflüssigkeiten" haben. Diese von einem manifesten Stottern zu unterscheiden, sei Aufgabe der Therapeutin.

Ganz wichtig: "Früher hat man geglaubt, man darf Stottern bei Kindern nicht ansprechen", sagt Wallner-Payr. Heute weiß man: Stottern sollte man nicht übergehen, sondern es mit den Kindern thematisieren, wenn sie eindeutig beginnen, darunter zu leiden und sich zurückzuziehen. Ein No-Go ist für die meisten Menschen, die stottern, dass ihr Gegenüber Sätze vervollständigt. Und auch Hektik oder Zeitdruck sind in Gesprächssituationen kontraproduktiv.

Dass mit Joe Biden nun ein Präsident mit diesem Handicap ins Weiße Haus einzieht, mache vielen stotternden Menschen Mut, sagt Logopädin Wallner-Payr. Allerdings sieht sie auch eine Kehrseite: "Für Menschen, die stark stottern, kann das natürlich auch frustrierend sein, weil sie sich nicht vorstellen können, das jemals zu erreichen." Als Logopädin betont sie, dass es für eine Sprechtherapie nie zu spät ist.

Wichtige Einstellung

Wird Biden am Mittwoch ins Stocken kommen? "Ich glaube nicht, weil er so offen darüber gesprochen hat in den letzten Monaten", sagt Wallner-Payr. "Und er geht wohl gut vorbereitet und auch mit der Einstellung hin: Sollte ich stottern, darf das auch sein."

Eine solche Einstellung ist auch abseits des Weißen Hauses wichtig, so die Expertin: "Es ist völlig in Ordnung, dass man das Stottern noch merkt", sagt Wallner-Payr. Wichtig sei aber, dass man darunter nicht mehr leidet. (Franziska Zoidl, 20.1.2021)