US-Präsidenten werden gerne an ihren ersten 100 Tagen im Amt gemessen. Dann findet gemeinhin ein erstes Resümee der neuen Ära statt. Joseph Biden wird gerade einmal 16 Tage Zeit bekommen, um eines der wichtigsten Projekte seiner Amtszeit auf den Weg zu bringen – eine einstweilige Verlängerung des letzten verbleibenden Rüstungskontrollabkommens zwischen den beiden atomaren Supermächten USA und Russland.

New Start heißt der Vertrag, den Barack Obama und Dmitri Medwedew 2010 in Prag unterzeichnet und damit globale Hoffnungen auf eine nachhaltige Reduktion der Nuklearwaffen – auf einen wahren Neustart – geweckt hatten. Am 5. Februar 2021 droht er nun auszulaufen und zu einer Rüstungsspirale zu führen. Seine Verlängerung ist jedoch einfach. Ein zwischen Moskau und Washington ausgetauschtes Communiqué reicht. Sowohl Joe Biden als auch Russlands Präsident Wladimir Putin haben bereits angekündigt, das rasch tun zu wollen. Wirklich schwierig wird es allerdings erst nachher, wenn über ein Folgeabkommen gesprochen werden muss, denn mit der Verlängerung von New Start allein würde noch nichts außer des Erhalts des dürftigen Status quo erreicht sein.

Zeichen auf Aufrüstung

Der Vertrag limitiert die Anzahl der abschussbereiten Trägersysteme strategischer Atomwaffen und jene der Bomber auf 800 und die Zahl der gefechtsbereiten Sprengköpfe auf 1.550 Stück. Sein Inkrafttreten sollte damals ein Anfang sein, ambitioniertere und umfassendere Abkommen hätten eigentlich folgen und so die Zahl der Atomwaffen in beiden Staaten zumindest in Richtung der Schwelle zur sogenannten Overkill-Kapazität drücken sollen. Dabei handelt es sich um jene Anzahl an Sprengköpfen, die laut Auffassung der Atomwaffenexperten ausreicht, um alles, was wir kennen, in Schutt und Asche zu legen. Alles darüber ist eigentlich nur wahnsinnig teures Extra, "Macho-Symbolik" prahlerischer Populisten, wie es etwa die Direktorin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican) im STANDARD-Interview kürzlich ausgedrückt hat – oder eben "Overkill".

Außer ein paar netten Bildern blieb vom Trump/Kim-Gipfel wenig übrig.
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Doch es kam anders. Das Pendel schlage mittlerweile klar in die gefährliche Richtung aus, konstatieren Militäranalysten fast unisono. Militärbudgets erreichen neue Rekordhöhen, die Modernisierung der Atomwaffenarsenale schreitet unaufhaltsam voran, und Jahr um Jahr werden neue Systeme vorgestellt, die Atomwaffen von A nach B transportieren. Das neue Wettrüsten hat längst begonnen. Und das obwohl die USA auch mit einem Drittel weniger Atomwaffen alle ihre Ziele erreichen könnten, wie es die Obama-Administration einst selbst vorgerechnet hat. Das Zerreißen des INF-Vertrags, also des Vertrags über die Vernichtung aller boden- und landgestützter Flugkörper mit mittlerer und kürzerer Reichweite, durch US-Präsident Donald Trump hat den Prozess nur noch weiter beschleunigt. Trump, der sich einst damit rühmte, den "Rocket Man" (Zitat Trump) von der Koreanischen Halbinsel gezähmt zu haben, hat in Sachen Rüstungspolitik rein gar nichts erreicht. Weder in Bezug auf Nordkorea und dessen Machthaber Kim Jong-un, der das Moratorium für Atomwaffentests und den Start von Interkontinentalraketen längst aufgekündigt hat, noch auf Russland oder China.

Machtpoker um Peking

Trumps Administration weigerte sich drei Jahre lang, mit Moskau ernsthafte Gespräche über den Fortbestand oder eine Ausweitung von New Start zu führen. Ohne den neuen Lieblingsantagonisten aus Fernost, die Atommacht China, wollte Trump keinen Deal. Peking versuchte man daraufhin zu einem multilateralen Abkommen zu zwingen. Wer mit Russland einen Vertrag verlängere, ohne China ins Boot zu holen, dem fehle es an profunden Verhandlungsskills, hieß es aus Trumps Team. Wer die offensichtliche Disparität zwischen dem chinesischen und dem russischen oder US-amerikanischen Nuklearwaffenarsenal ignoriert, dem fehle es an Verhandlungsbasics, könnte man entgegnen. Zum Vergleich: Während die USA fast 6.000 nukleare Sprengköpfe ihr Eigen nennen, hat China gerade einmal rund 300 Stück.

China rüstet derweil auf, wird in atomarer Hinsicht aber noch lange in anderen Sphären unterwegs sein als Moskau und Washington. Das gilt es zu berücksichtigen. "Will man China an den Verhandlungstisch bringen, muss man ihnen etwas anbieten", sagt der Atomwaffenexperte Hans Kristensen. Bislang geschah das nicht. China vorzuführen oder gar unter Druck zu setzen habe erwartbarerweise gar nichts gebracht, so Kristensen. Trumps Amtszeit waren insofern vier verlorene Jahre für die Rüstungskontrolle. Er war der erste Präsident seit Dwight D. Eisenhower, der sich mit Moskau zu keinem Vertrag zur Eindämmung der atomaren Gefahr durchringen konnte.

Zeit gewinnen

Biden steht neben außenpolitischen Mammutprojekten wie der Rettung des Iran-Deals nun also auch vor der schwierigen Aufgabe, den letzten Rest, der von der Rüstungskontrolle übrig blieb, zunächst zu retten und dann ehestmöglich mit einem neuen Vertragswerk zu ersetzen. Weil dies eher ein Prozess von Jahren als von Wochen oder Monaten ist, wären die beiden Präsidenten der Atomsupermächte gut beraten, den Vertrag vorerst um die vollen fünf Jahre und nicht weniger zu verlängern. In den vergangenen Wochen und Monaten wurden in den USA Stimmen für eine kürzere Verlängerungsperiode laut. Hintergrund war auch hier, den Druck auf Russland zu erhöhen, einem Folgeabkommen zuzustimmen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte den US-Amerikanern aber mehrmals unverblümt ausgerichtet, dass sie New Start "kein bisschen mehr als die USA" bräuchten.

Biden und Putin bei einem Treffen 2011. Putin erwartet "business as usual", wenn der Ex-Vizepräsident den Chefposten übernimmt.
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Wenn die Geschichte der atomaren Rüstungskontrolle eines gezeigt hat, dann das, dass diese vor allem auch von einem Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen geprägt sein muss, wenn sie zu langfristigen Erfolgen führen soll. Es wird also auch auf das persönliche Verhältnis zwischen Putin und Biden und deren Bereitschaft zu ernsthaften Gesprächen ankommen. In diese Verhandlungen auf Augenhöhe zu gehen, wenngleich es die wirtschaftlichen oder militärischen Voraussetzungen in den beiden Staaten aktuell vielleicht nicht sind, ließe sie wenigstens nicht gleich zu Beginn als zum Scheitern verurteilt erscheinen.

Unsicherheitsfaktor Verbotsvertrag

Interessant zu beobachten wird außerdem sein, wie Biden auf den Atomwaffenverbotsvertrag reagiert, der lediglich zwei Tage nach seiner Angelobung erstmals in Kraft treten wird, nachdem er von mittlerweile mehr als 50 Nichtnuklearwaffenstaaten ratifiziert worden ist. Die USA werden dem Vertrag ebenso wenig beitreten wie Frankreich, Großbritannien, Russland oder China. Auch Israel, Pakistan, Indien und Nordkorea werden sich hüten. Die Abrüstungsinitiative hat aber bereits angekündigt, künftig vor allem die öffentliche Meinung in jenen Staaten beeinflussen zu wollen, die aktuell unter dem nuklearen Schutzschirm stehen – etwa Deutschland.

Bislang haben die Atommächte lediglich versucht, den Vertrag zu diskreditieren. Wenn es den Atomwaffengegnern jedoch gelingen sollte, die humanitären Folgen sowie den unfassbaren Ressourcenaufwand für Atomwaffenprogramme weiterhin in den Mittelpunkt zu rücken, so könnte auch hier ein heißer Tanz auf die Politik der Atomwaffen- und Schutzschirmstaaten warten. Mittelfristig eint Russland, die USA, aber auch die Nuklearwaffengegner zumindest ein Ziel: weniger Atomwaffen auf dem Planeten Erde. Die nächsten Tage könnten in zweierlei Hinsicht einen Grundstein dafür legen. (Fabian Sommavilla, 18.1.2021)