Netflix und Co überwachen ihre Kunden genau – und können mit diesen Daten genau nach Kundengeschmack produzieren.

Foto: iStockphoto; Montage: DER STANDARD

Eine Million Dollar – so viel Geld waren einem US-amerikanischen DVD-Verleih im Jahr 2006 ein paar Zeilen Code wert. Das Preisgeld sollte derjenige bekommen, der es schaffte, die Empfehlungen für neue Filme, welche die Videothek Kunden auf Basis ihrer Vorlieben mitgab, um nur zehn Prozent genauer zu machen. Schließlich bedeuten treffsicherere Empfehlungen mehr versandte DVDs – und mehr Umsatz für die Videothek, die übrigens Netflix hieß.

Noch heute versendet das Unternehmen Millionen DVDs per Post, den Großteil seiner Filme und Serien liefert Netflix bekanntermaßen aber per Stream direkt auf unsere Laptops und Smartphones. Geheimnis des Erfolgs sind aber damals wie heute die automatischen Empfehlungen der Plattform. Der Streamingdienst schlägt uns immer neue Filme, Serien und Dokus vor, die zu unserem Geschmack passen. Wer kennt ihn nicht, den verhängnisvollen Countdown, der am Ende eines Films den nächsten ankündigt?

Die Milliarden-Dollar-Frage

Drei von vier Stunden, die auf Netflix verbracht werden, sollen auf Empfehlungen der Plattform zurückzuführen sein. Der Code, der uns zum Dauer-Bingen verleiten soll, ist Netflix inzwischen eine Milliarde US-Dollar wert – und er wird immer besser und wertvoller, je mehr Zeit wir auf der Plattform verbringen. Netflix weiß etwa, dass zu Weihnachten 2017 53 Personen 18 Tage hintereinander A Christmas Prince geschaut haben. Die Plattform weiß auch, welche Filme so gruselig sind, dass sie kaum jemand zu Ende schaut. Vor allem aber weiß Netflix über den Filmgeschmack von 200 Millionen Menschen Bescheid. In der Filmbranche, wo ein Flop schnell dreistellige Millionenbeträge kosten kann, ist dieses Wissen Gold wert.

Denn mit den Daten lassen sich nicht nur vorhandene Inhalte für jeden Nutzer persönlich anordnen, sondern auch nach ihren Wünschen produzieren. Was Erfolg verspricht, wird gedreht, während Flop-Drehbücher vorsorglich im Papierkorb landen könnten. Ist im Zeitalter der algorithmisch austarierten Formate noch Platz für Arthouse-Kino, Überraschungserfolge und Nischenproduktionen?

In der Filmbranche wird jedenfalls schon fleißig daran gearbeitet, Misserfolge möglichst früh auszuschließen. Etwa am Technology Entertainment Center (ETC) an der Carnegie Mellon University, einem eher verschwiegenen Thinktank von Hollywoods größten Produktionsfirmen. Ganz im Sinne seines Mitbegründers, des Star Wars-Schöpfers George Lucas, versucht das ETC neue Technologien in die Filmbranche zu holen und die Traum¬fabrik ins neue Jahrtausend zu hieven. Der Datenexperte Yves Bergquist bastelt dort an einer künstlichen Intelligenz, die den Erfolg oder Misserfolg eines Films voraussagen soll.

Auf der Spur der Einzigartigkeit

"Wir wollen nicht die eine Formel finden", sagt Bergquist. Und schon gar nicht wolle man den Drehbuchschreibern und Produzenten per Software diktieren, was sie tun oder lassen sollen. Vielmehr soll die Software mit dem Namen Corto für die Produktionsfirmen herausfinden, wie ein Film auf das Publikum wirkt. Dabei analysiert das Programm neben dem Drehbuch auch Besetzung und Kameraeinstellungen. Anhand von aktuellen Diskussionen in den sozialen Medien soll die Software außerdem eruieren, was gerade angesagt ist, und die Zielgruppe für einen Film eingrenzen. Das soll auch die Vermarktung effizienter machen.

Mithilfe von Machine-Learning will Bergquist herausgefunden haben, was erfolgreiche Filme und Serien ausmacht: nämlich eine Mischung aus genretypischen und völlig neuen Elementen. In einer medial übersättigten Welt würden Menschen nach Innovation suchen, gleichzeitig brauche das Gehirn aber Anhaltspunkte, um eine Geschichte einordnen zu können. "Wir geben Kreativen das Werkzeug, um zu erkennen, wie einzigartig ihre Geschichte und ihre Figuren sind", so Bergquist.

Drehbuch nach Maß

Ganz ähnlich arbeitet das Antwerpener Start-up Scriptbook. 30.000 Drehbücher hat die Gründerin Nadira Azermai ihrem Algorithmus gefüttert, damit dieser zwischen guten und schlechten Geschichten unterscheiden kann. "Das Programm versteht, was uns in der Vergangenheit gefallen hat, und weiß deshalb, was wir in Zukunft mögen werden", so Azermai. Die Software schlägt etwa Alarm, wenn die Hauptfiguren zu unsympathisch sind. Innerhalb weniger Minuten wirft Scriptbook außerdem eine Prognose aus, wie viel der Film einspielen wird – laut eigenen Angaben mit einer Erfolgsquote von 87 Prozent.

Für Produzenten mögen diese Werkzeuge nützlich sein, für Zuschauer stellt sich aber die Frage: Opfern wir damit Kreativität dem finanziellen Erfolg? Sollten Filmemacher und Showrunner nicht mutig und vielleicht ein bisschen exzentrisch sein, anstatt es allen recht machen zu wollen? Das Kabelnetzwerk HBO etwa ging lange den entgegengesetzten Weg von Netflix und Co. "Wir machen keine Marktforschung, wir schauen nicht auf Einschaltquoten", sagte etwa HBO-Programmchef Mike Lombardo noch 2014. Statt auf Daten verließ sich der Pay-TV-Sender auf die Intuition seiner kreativen Köpfe. Gepaart mit einem locker sitzenden Millionenbudget entstanden dabei Hits wie Game of Thrones. Die Datenglaskugel von Netflix hätte von dem teuren Epos damals wohl abgeraten – Fantasyserien galten bis dahin schließlich nicht gerade als massentauglich.

Chance für kleine Firmen

Azermai glaubt nicht, dass der Filmmarkt bald mit KI-generiertem Einheitsbrei überschwemmt wird. Im Gegenteil, sie ist überzeugt davon, dass die Branche durch Tools wie ihres demokratischer werden kann. "Die Filmindustrie ist ziemlich elitär", sagt die Start-up-Gründerin. Viele Autoren und Filmemacher würden sich schwertun, weil ihnen die richtigen Kontakte in der Branche fehlten. Kann man zu einer guten Story aber gleich eine genaue Prognose zum Erfolg des Films vorweisen, falle es leichter, mit Produzenten und Financiers ins Gespräch zu kommen. Eine gute Geschichte ist schließlich eine gute Geschichte – egal von wem sie kommt.

Die KI-gestützte Software sei im Vergleich zu großen Marktforschungsabteilungen außerdem günstig und damit auch für kleine Produktionsfirmen erschwinglich. Für die europäische Branche sei das eine Chance wegzukommen vom Status quo, wo "der Fokus viel zu stark auf künstlerische Produktionen" liege, die nur wenige Menschen erreichen, so Azermai.

Computer finden, sie erfinden nicht

Nicht nur in der Analyse, sondern auch im Erstellen von Texten werden Computer immer besser. Vergangenen Sommer verblüffte der Algorithmus GPT-3, der Blogartikel, Märchen und Witze schreiben kann. Auch Scriptbook arbeitet an einer Software namens Deepstory, die Autoren bei Kreativblockaden weiterhelfen soll. Diese müssen sich aber keine Sorgen machen, bald komplett durch Computer ersetzt zu werden. Denn das Ergebnis der Textalgorithmen mutet noch kurios an: So etwa der 2016 erschienene Sci-Fi-Kurzfilm Sunspring, der komplett von einer KI geschrieben wurde: Einen sinnvollen Dialog brachte der Computer nicht zustande, dafür würgt ein Protagonist mitten im Gespräch einen Augapfel hervor.

Nonsens-Dialoge und Augapfel-Würgen: Noch schreiben Computer vor allem Dada.
Ars Technica Videos

"Es ist eine Sache, Sätze zu generieren, die einigermaßen Sinn ergeben, aber eine komplett andere, ein Filmdrehbuch zu schreiben", sagt Bergquist. Smarte Software soll in Zukunft vor allem jene Ideen auf die Leinwand holen, die bisher als zu unkonventionell abgetan wurden und deshalb nicht produziert werden. "Wer hingegen nach Formeln produzieren lässt, wird scheitern", sagt Bergquist. "Das war in Hollywood schon immer so." (Philip Pramer, 19.1.2021)