Maßnahmen lockern oder doch lieber verschärfen? Viel diskutiert wird derzeit die Frage, wie man auf die neue Mutation reagieren soll.
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PRO: Gefährlicher denn je

Von Oona Kroisleitner

Die Bilder, die das Frühjahr 2020 bestimmt haben, scheinen mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. Die Berichte von Hilferufen aus überfüllten Krankenhäusern in Norditalien, die täglich über die Bildschirme flimmerten, wirken heute wie aus einem anderen Jahrhundert. Damals kollabierte – für alle Welt sichtbar – das Gesundheitssystem im Nachbarland; Ärztinnen und Ärzte mussten entscheiden, wer eine intensivmedizinische Versorgung erhält – und wer nicht. Der Auftrag war danach klar: alles zu tun, um Spitäler und Altenheime zu schützen. Die Solidarität mit den Hochrisikogruppen war groß. Die Neuinfektionen gingen im ersten Lockdown tatsächlich rasant zurück.

Mittlerweile ist die Stimmung ganz anders. Seit fast einem Jahr wird erst zu-, dann auf-, dann wieder zugesperrt. Schülerinnen und Schüler werden von einer Woche auf die andere nach Hause geschickt. Die Arbeitslosigkeit ist massiv gestiegen. Fast jeder kennt, nein, nicht jemanden, der oder die an Corona gestorben ist, sondern der oder die ihren Job verloren hat. Die Bereitschaft, die Beschränkungen einzuhalten, sinkt von Tag zu Tag. Kein Wunder: Auch wer die Nachrichten genau verfolgt, weiß nicht mehr, was im Augenblick gilt.

Diskutiert wird vor allem eine Frage: Wann wird was wieder geöffnet? Wann können wir wieder shoppen und ins Kino gehen? Das ist verständlich, aber gefährlich. Denn die Lage ist derzeit die schlimmste seit Ausbruch der Pandemie.

Das Contact-Tracing, die Rückverfolgung der Infektionsketten, funktioniert derzeit kaum. Die Impfungen laufen nur langsam an. Und: Die potenziellen Folgen der neuen Virusvariante B.1.1.7 für die Ausbreitung der Infektionen sind laut vielen Expertinnen und Experten katastrophal. Bis zu 60 Prozent infektiöser als das bisher bekannte Virus soll die englische Mutante sein; mit ihr drohen die Infektionszahlen zu explodieren.

Leider kennen wir nur ein einziges Mittel, um das Coronavirus einzudämmen: den harten Lockdown. In dieser Situation die Maßnahmen aufzuweichen wäre unverantwortlich.

Viel eher stellt sich die Frage, wie man die Regeln an die neue Variante anpassen und so das Virus in den Griff bekommen kann. Statt Lockerungen braucht es strengere Abstands- und Hygieneregeln sowie eine für B.1.1.7 besser geeignete Definition von Kontaktpersonen der Kategorie 1 – also jenen, die mit Infizierten zusammen gewesen sind und daher ein hohes Ansteckungsrisiko haben. Denn sonst wird uns die Kontrolle über das Virus völlig entgleiten – wie einst in Norditalien. (Oona Kroisleitner, 15.1.2021)

KONTRA: Dienst nach Vorschrift

Von Andreas Schnauder

Es gibt schon seltsame Gewichtungen in diesem Land. Während das Heer der Arbeitslosen wächst, die Pleitewelle anrollt, Einsamkeit und andere seelische Nöte Corona-bedingt an der Gesellschaft nagen, wird laufend einer Verschärfung der Maßnahmen das Wort geredet. – also jenen Geschäfts-, Schul- und Theaterschließungen, die für die Schmerzen verantwortlich sind. Zur Bekämpfung von Covid-19 und seines Mutanten wird schnell die große Bazooka ausgepackt, ohne die Kollateralschäden ausreichend im Blick zu haben.

Das Erstaunliche dabei ist, wie leicht Einschnitte bei den Freiheitsrechten von der Hand gehen. Corona freien Lauf zu lassen ist natürlich keine Alternative. Aber alles der Virusbekämpfung unterzuordnen, noch dazu über längere Zeiträume hinweg, führt wirtschaftlich, bildungspolitisch, kulturell und gesellschaftlich in die Sackgasse. Alternativen gäbe es, doch sie werden nicht ambitioniert verfolgt und/oder gleich in Grund und Boden gestampft.

Corona-App? Teufelszeug! Lieber wurden Zettel im Kaffeehaus (korrekt?) ausgefüllt, als digitale Formen der Kontaktrückverfolgung zu nutzen. Ja, ja, der Datenschutz. In Österreich und Europa lassen sich Menschen, von denen nicht wenige ihr Privatleben offenherzig auf Social Media zur Schau stellen, lieber einsperren. Wie das mit dem Contact-Tracing dann so lief, weiß man ja zur Genüge. Es dauert viel zu lange, bis Testergebnisse vorliegen und Erkrankte wie Kontaktpersonen informiert und abgesondert werden.

Auch andere Corona-Auswege werden blitzartig blockiert. Massentests? Unangenehm! Freitesten? Gemein! Natürlich haben alle genannten Schritte auch unerwünschte Nebenwirkungen, doch sind die immer noch erträglicher, als das Land gänzlich abzudrehen, wie das nun zusehends gefordert wird. Man muss sich wundern, welche Empörungswelle regelmäßig anrollt, wenn Maßnahmen zur Disposition gestellt werden, die zur schrittweisen Rückkehr zur Normalität beitragen.

Noch seltsamer erscheint der ständige Ruf nach Verschärfungen im Lichte der abnehmenden Wirkung der Lockdowns. Die Leute haben das ständige Auf- und Zusperren, den Zickzackkurs, zusehends satt – und verrichten vor lauter Regeln nur noch Corona-Dienst nach Vorschrift. Die Bürger machen lediglich das Notwendigste. Die Regierung propagiert zwar die Eigenverantwortung, doch diese verträgt sich mit der anhaltenden Regelungswut nicht. (Andreas Schnauder, 15.1.2021)