Die ansteckendere britische Virusvariante B.1.1.7 hat den Kampf gegen die Pandemie noch einmal neu aufgemischt. Wie aber können wir dem mutierten Erreger Einhalt gebieten?

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Kaum hat das neue Jahr begonnen, ist schon wieder alles anders. Schuld daran ist nicht zuletzt die neue britische Virusvariante B.1.1.7, die fürs Erste die Öffnungspläne nach dem Lockdown über den Haufen geworfen hat. Denn erstens ist die Zahl der Neuinfektionen in Österreich immer noch sehr hoch, und zweitens wissen wir nicht, wie groß der Anteil der ansteckenden britischen Mutante daran ist.

Das ist auch die große Unbekannte für die nächsten Wochen unseres ständigen Wettlaufs gegen das Virus, der immer mehr zu einem Marathonlauf unter verschärften Bedingungen wird. Denn als ob ein Marathon nicht schon anstrengend genug wäre, sind immer wieder auch noch ermüdende Zwischensprints mit einem Gegner zu bewältigen, der an unsere Ausdauerleistungen mittlerweile fast schon übermenschliche Ansprüche stellt.

Dabei hat Ende 2020 alles noch so gut ausgesehen: Die ersten Impfstoffe kamen in Österreich an, und mittlerweile ist auch ein zweiter Impfstoff in der EU zugelassen. Man sei "sehr zuversichtlich" gewesen, durch das Ausrollen der Impfungen das Coronavirus in absehbarer Zeit in Schach halten zu können, sagt der Komplexitätsforscher Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna.

Die mutierten Virusvarianten jedoch hätten diese Pläne "über den Haufen geworfen". Vor allem das Auftauchen von B.1.1.7 mit seiner höheren Infektiosität erschwere die Eindämmungsstrategien. Zudem sei durch diese Variante auch das längerfristige Mutationspotenzial des Erregers offenbar geworden.

Sind angesichts dieser höheren Ansteckungsgefahr in den nächsten Wochen bis Ostern Öffnungen und Lockerungen des Lockdowns überhaupt denk- und riskierbar? Sollten uns die Impfungen umgekehrt nicht doch in absehbarer Zeit helfen, auf den Weg in die Normalität zurückzufinden?

Das Test- und Impfvorbild Dänemark

Wenn es im Moment ein Land in der EU gibt, in dem man zu diesen Fragen konkrete wissenschaftliche Evidenz hat, dann ist das Dänemark. Das kleine skandinavische Land ist in Sachen Corona aktuell das große Vorbild in Europa. Nirgendwo in der EU wurden bisher mehr Corona-Impfungen im Vergleich zur Bevölkerungsgröße verabreicht, nämlich 130.000 (Stand: 13. Jänner) bei 5,8 Millionen Einwohnern.

Die Dänen sind aber – sieht man einmal vom sehr viel kleineren Island ab – auch so etwas wie regierender Test- und Sequenzier-Europameister. Nirgendwo in der Europäischen Union wird im Vergleich zur Bevölkerungsgröße so viel und so systematisch getestet, nirgendwo werden so viele Virusproben auch vollständig sequenziert und auf Mutationen untersucht. Deshalb hat man in Dänemark – abgesehen von Großbritannien – bisher auch die meisten Fälle von B.1.1.7 sicher nachgewiesen. (Was natürlich nicht bedeutet, dass diese Variante in anderen Ländern nicht schon weiter verbreitet ist.)

Mads Albertsen hat den besten Überblick, wie sich B.1.1.7 in Dänemark ausbreitet.
Foto: University of Aalborg

Hauptzuständig für die dänischen Sequenzieranstrengungen ist Mads Albertsen, 35-jähriger Professor an der Universität Aalborg. Die aktuellen Daten, die er hat, sind die besten in der EU. "Doch auch unsere bisherigen Informationen lassen noch keine eindeutigen Schlüsse zu, wie es in den nächsten Wochen mit der Mutation weitergehen wird", sagt der Sequenzier- und Genomik-Experte im Gespräch mit dem STANDARD.

Verdoppelung des Anteils von B.1.1.t

Wie also sieht die Lage in Dänemark aus? Der relative Anteil von B.1.1.7 an den sequenzierten Virusgenomen und damit auch an den Infektionen nimmt zwar seit Anfang Dezember ständig zu und scheint sich fast jede Woche zu verdoppeln: Während der relative Anteil in der ersten Dezemberwoche nur 0,4 Prozent betrug, stieg dieser Wert in der ersten Jännerwoche auf 3,6 Prozent.

Die wöchentliche Anzahl der sequenzierten Genome von Sars-CoV-2 in Dänemark. Rot der Anteil der britischen Variante B.1.1.7.
Grafik: Danish Covid-19 Genome Consortium

Zugleich aber konnte man in Dänemark durch einen harten Lockdown ganz ähnlich wie in Österreich die täglichen Infektionszahlen nach einem Höhepunkt Mitte Dezember stark senken – von über 4.000 bestätigten Neuinfektionen am 18. Dezember auf aktuell etwas über 1.000 Neuinfektionen täglich.

Die wöchentliche Gesamtzahl der Corona-Infektionen in Dänemark mit dem Anteil der sequenzierten Viren.
Grafik: Danish Covid-19 Genome Consortium

"Es ist offensichtlich, dass der relative Anteil der Variante B.1.1.7 am Infektionsgeschehen in Dänemark und vermutlich auch in den anderen europäischen Ländern stark steigt", resümiert Albertsen. "Aber es wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen, welche Maßnahmen nötig sind und welche Lockerungen möglich sein können, um die Infektionszahlen auch dann noch unter Kontrolle zu halten, wenn sich B.1.1.7 nachweislich noch stärker ausgebreitet hat."

Wobei bei den Dänen halt auch noch dazukommt, dass sie bereits nächste Woche alle Bewohner von Alten- und Pflegeheimen immunisiert haben wollen. Und je mehr vulnerable Menschen geimpft sind, desto größer wird auch der Handlungsspielraum, da auch das Risiko einer Überlastung des Gesundheitssystems sinkt.

Die möglichen Szenarien in Österreich

Etwas dramatischer ist die Tonlage, die Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) am Freitag bei seiner wöchentlichen Pressekonferenz anschlug. Derzeit herrsche eine alarmierte Stimmung innerhalb der EU bezüglich der neuen Virusmutation, so Anschober. Die schrittweise Ausbreitung von B.1.1.7 werde in ganz Europa "sehr, sehr ernst genommen". Er vermutet, dass die Mutation in manchen Regionen Europas bereits eine große Ausbreitung hat. "Und wir müssen davon ausgehen, dass Österreich da keine Insel der Seligen ist", so Anschober.

Aktuell gebe es in Österreich rund 100 Verdachtsfälle in Bezug auf die neue Virusmutation, bestätigte Andreas Bergthaler bei der Pressekonferenz. Der Wissenschafter vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der ÖAW koordiniert die österreichweite Initiative zur Sars-CoV-2-Sequenzierung. "Obwohl wir noch immer nicht wissen, wie viele Verdachtsfälle wir genau haben, können wir nicht ausschließen, dass es sich schon breitflächiger in Österreich befindet", sagte Bergthaler. Wenn man davon ausgehe, dass die Variante um 50 Prozent ansteckender ist, und das hochrechne, dann habe man nach einem Monat eine Verachtfachung der Fälle.

Bei den Fallzahlen sei aufgrund der Mutation verstärkte Aufmerksamkeit gefragt, bestätigt auch Komplexitätsforscher Klimek, um dem Kippmoment hin zu einem explosionsartigen Steigen der Fallzahlen zu entgehen. "In einem Land mit einer niedrigen Sieben-Tage-Inzidenz von 50 ist das weit unwahrscheinlicher als in einem Land mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200", sagt der Experte.

Kontaktverringerung und Hygiene

Um die Fallzahlen möglichst niedrig zu halte, sind einmal mehr Kontaktverringerung und Hygienemaßnahmen gefragt. Hier müsse man jedoch die zunehmende Corona-Müdigkeit der Bevölkerung in Rechnung stellen: "Ich glaube nicht, dass noch härtere Lockdown-Maßnahmen sinnvoll sind", sagt Klimek. Deshalb sollten bestehenden Maßnahmen besser umgesetzt werden, etwa durch begleitende Schutzmaßnahmen oder klar formulierte Ziele, ab welchen Fallzahlen bestimmte Öffnungsschritte gesetzt werden.

Zugleich würden die laufenden Impfungen auf alle Fälle zu einer Verbesserung der Lage beitragen. Gelinge es, noch im Jänner alle Hochrisikopersonen in Alten- und Pflegeheimen zu immunisieren, werde es im Februar zu einem merkbaren Rückgang der Sterblichkeit in dieser Gruppe kommen. Und auch die Hospitalisierungsquote werde sinken. Das bestätigt auch Simulationsforscher Niki Popper von der TU Wien: Derzeit werde geimpft, um die Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitssystem zu verringern.

Gegen die Ausbreitung an sich werde erst in den Monaten danach immunisiert. "Wir werden dann in eine Situation kommen, in der wir ohne Überlastung des Gesundheitsweisens höhere Infektionszahlen tolerieren können", sagt Klimek. Das wiederum könnte zur Folge haben, dass – trotz ihrer geringeren Wahrscheinlichkeit, schwer zu erkranken – mehr jüngere Menschen ins Spital müssten. "Auf alle Fälle werden die kommenden Monate kritisch sein."

Die weiteren Prognosen

Für die etwas weitere Zukunft gibt es eine günstige und eine nicht so günstige Prognose: "Im Sommer sollte aufgrund der Impfungen – vor allem dann, wenn sie auch vor Übertragungen schützen sollten – eine gewisse Entwarnung möglich sein, auch trotz B.1.1.7", sagt Klimek. Ist der Wettlauf mit dem Virus dann gewonnen? Eher nicht, denn: "Wir müssen uns auf weitere Mutationen einstellen."

Das Coronavirus werde sich wohl zu einem langfristig in der Bevölkerung kursierenden, endemischen Erreger entwickeln, prognostiziert Klimek. "Und solange es gegen diesen unter den Menschen – sei es durch Impfungen oder nach Infektionen – keine ausgeprägte Immunität gibt, wird es auch Kontrollmaßnahmen geben müssen." (Irene Brickner, Klaus Taschwer, 16.1.2021)