Mark Rutte radelt zum Rücktritt. Später gab er sich als Büßer. Er könnte sich im März dennoch selbst nachfolgen.

Foto: Imago / ANP / Remko de Waal

Es war ein Sturz in Zeitlupe, mit sanfter Landung: Zeitlupe, weil der Rücktritt der niederländischen Regierung, der sich Freitag vollzog, schon seit Tagen in der Luft lag – sanft, weil sich die vier Koalitionspartner einig wurden und "in Harmonie zurücktreten", so Premier Mark Rutte: "Wenn das ganze System versagt, wenn auf entsetzliche Weise etwas völlig schiefgelaufen ist, kann nur gemeinsam Verantwortung übernommen werden."

Was Ruttes Vierparteienkoalition zwei Monate vor den Parlamentswahlen Mitte März zum Verhängnis wurde, ist die sogenannte Kinderbeihilfe-Affäre, genauer gesagt: die Hetzjagd des Finanzamts in den letzten zehn Jahren auf rund 20.000 Eltern, die zu Unrecht als Betrüger abgestempelt wurden.

Unter den Rädern des Rechtsstaats

Sie gerieten, sagt Rutte, "unter die Räder des Rechtsstaats". Die Eltern konnten sich weder verteidigen noch rechtfertigen, sondern stießen bei den Behörden auf eine Mauer des Schweigens und wurden dazu verdonnert, das angeblich über viele Jahre hinweg unrechtmäßig erhaltene Geld zurückzuzahlen.

Viele mussten sich hoch verschulden, lebten in Stress und Angst vor dem Gerichtsvollzieher, manche verloren sogar ihr Haus. "Ich habe meine Tochter manchmal krank gemeldet, weil ich ihr kein Pausenbrot mit in die Schule geben konnte und Angst vor dem Jugendamt hatte", erzählte eine Mutter im Radio, die in Freudentränen ausbrach, als sie vom Rücktritt der Regierung hörte.

Auslöser für den Übereifer der Beamten waren mehrere Betrugsaffären gewesen. In Zukunft sollte deshalb hart durchgegriffen werden. Eine Überreaktion, die dazu führte, dass ein Fehler beim Formular-Ausfüllen reichte, um an den Schandpfahl genagelt zu werden.

Die Augen verschlossen

Die Basisprinzipien des Rechtsstaates wurden verletzt", hatte ein parlamentarischer U-Ausschuss bereits Ende 2020 konstatiert: Hochrangige Politiker hätten von den Pannen des Finanzamts gewusst und auch vom unmenschlichen Umgang der Beamten mit den Eltern – aber davor die Augen verschlossen.

Die Regierung bat die Eltern daraufhin um Entschuldigung und beschloss, ihnen eine Entschädigung von jeweils 30.000 Euro zu zahlen. Doch damit allein ließ sich dieses Kapitel nicht schließen: Der Oppositionsführer der Sozialdemokraten, Lodewijk Asscher, bis 2017 Minister für Soziales, war am Donnerstag überraschend zurückgetreten und hatte damit den Druck auf Ruttes Kabinett erhöht. Asscher hatte damals als Minister die Bekämpfung von Betrug intensiviert.

Wegen der Corona-Pandemie, die auch den Niederländern schwer zu schaffen macht, hatten sich in einer Umfrage 90 Prozent der Wähler gegen einen Rücktritt des Kabinetts ausgesprochen. Doch Rutte versicherte gestern, was Corona betreffe, werde sein Kabinett weiterregieren, als wäre nichts geschehen: "Die Bekämpfung der Pandemie und das Lindern der Folgen hat Priorität."

Demokratie-Reparatur

Nächste Woche wird das Parlament über die Kinderbeihilfe-Affäre debattieren; die Grünen hatten bereits ein Misstrauensvotum angekündigt und dafür auch eine knappe Mehrheit erhalten können. Nicht ausgeschlossen, dass es Rutte im März trotzdem gelingt, zum vierten Mal hintereinander Premier zu werden. In den letzten Umfragen jedenfalls liegt seine rechtsliberale VVD-Partei unangefochten an der Spitze.

Doch auch Rutte ist sich darüber im Klaren, dass es mit dem symbolischen Rücktritt allein nicht getan ist. Er hat eine Reform des Beihilfensystems in Aussicht gestellt. Auch die Ämter müssten transparenter werden, mit mehr Einsicht in die Dossiers. Unerlässliche Maßnahmen, befand auch der ehemalige nationale Ombudsmann Alex Brenninkmeijer: "Die Mauern unserer Demokratie haben Risse bekommen – nur so lassen sie sich wieder kitten." (Kerstin Schweighöfer aus Den Haag, 15.1.2021)