Wo immer möglich, soll verpflichtend im Homeoffice gearbeitet werden, fordert der Mediziner Oswald Wagner.

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Sie gehen beispielhaft voran, alle Experten trugen eine FFP2-Maske im Kanzleramt – Herwig Ostermann, Oswald Wagner und Andreas Bergthaler.

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Wien – Wie soll es in Österreich nach dem aktuell geltenden Lockdown, der am Papier bis 24. Jänner, also Sonntag in einer Woche, gilt, weitergehen? Was soll oder muss getan bzw. verhindert werden? Antworten auf diese Fragen sucht die Regierung seit Freitagabend. Nach einer bis in die Nacht dauernden Unterredung mit den Landeshauptleuten bat die Regierung am Samstag zuerst Experten und dann die Sozialpartner ins Kanzleramt, um die weitere Vorgehensweise zu beraten. Am Samstagabend wurde aus Verhandlerkreisen bekannt, dass der Lockdown um zwei Wochen – also bis zum 7. Februar – verlängert werden soll. Ab Montag, dem 8. Februar, soll es schrittweise Lockerungen geben.

Details will die Regierung am Sonntag um 11 Uhr bei einer Pressekonferenz bekanntgeben. Was aber mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden kann, sind folgende Maßnahmen: Handel und Schulen weiterhin zu bzw. im Distanzmodus, Gastronomie und Kulturinstitutionen sind den Sperrmodus schon schmerzhaft gewohnt, die Ausgangssperren bleiben aufrecht, und frisurtechnisch heißt es auch, pragmatische Lösungen zu finden, denn auch die Friseurinnen und Friseure als Vertreter der sogenannten körpernahen Dienstleistungen müssen wohl oder übel noch warten, bis sie wieder zur Schere greifen und Kundinnen wie Kunden verschönern dürfen.

Geplant war ja eigentlich, dass der seit 26. Dezember laufende Lockdown am Sonntag in einer Woche, am 24. Jänner, auslaufen sollte. Dem widersprachen am Samstagvormittag vier der teilnehmenden Experten nach dem Gespräch mit der Regierung im Rahmen eines Pressestatements einhellig. Bei dem Termin mit der Regierung waren auch Simulationsexperte Niki Popper von der TU Wien, Komplexitätsforscher Stefan Thurner vom Complexity Science Hub Vienna und Virologin Elisabeth Puchhammer von der Med-Uni Wien dabei.

Zahlen zu hoch für ein Aufmachen

"Das ist für ein Aufmachen, für ein Ende des Lockdowns viel zu hoch", begründete Oswald Wagner, Vizerektor der Med-Uni Wien, mit Verweis auf die nicht ausreichend sinkenden Inzidenzen. Noch immer liegt die Sieben-Tage-Inzidenz zwischen 130 und 150, das ist die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus in den abgelaufenen sieben Tagen je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Man brauche jetzt Maßnahmen, um diese Zahl auf unter 50 zu senken: "50 ist jedenfalls ein Grenzwert", bei dem auch das wichtige Contact-Tracing, die Verfolgung der Kontakte von infizierten Personen, wieder machbar sei, sagte Wagner, die an der Med-Uni das Klinische Institut für Medizinische und Chemische Laboratoriumsdiagnostik leitet. Im Ö1-"Morgenjournal" hatte Wagner sogar 25 genannt: Das werde "wohl notwendig sein, bevor man aus wissenschaftlichen Gründen ein Lockdown-Ende empfehlen kann".

Europäischer Gleichklang statt Pingpong-Effekt

Und man brauche einen "Gleichklang mit europäischen Ländern", denn sonst komme es durch den Grenzverkehr unweigerlich zu einem "Pingpong-Effekt", betonte Wagner. Es habe sich gezeigt, dass jene Länder, die mit zu hohen Fallzahlen Lockerungen erlaubt hätten, nach zehn Tagen wieder zusperren mussten, etwa Südtirol oder Tschechien. Das Ziel, so Wagner, sei, dass man die Zahlen jetzt so weit drücken müsse, um dann bis zum Greifen der Impfung, vor allem auch bei den besonders vulnerablen Gruppen, ohne weiteren Lockdown durchzukommen. "Wir müssen mehr tun", sagte auch der Statistiker Erich Neuwirth. Die Corona-Zahlen schwankten seit 11. November "auf und ab, aber es ist kein Abwärtstrend erkennbar".

Wie soll oder kann der gelingen? Welche Maßnahmen schlagen die Experten vor?

  • Generelle FFP2-Masken-Pflicht – also in allen geschlossenen Räumen, wo Menschen aufeinandertreffen. Das könnte bei der späteren schrittweisen Öffnung auch eine Hilfe sein, im Handel etwa wäre das eine Möglichkeit, schwieriger hingegen wäre es in der Gastronomie, sagte Wagner. Diese hochwertigen Masken "bieten wirklich einen enormen Schutz". Er sprach sich übrigens auch dafür aus, dass sie zum Selbstkostenpreis verkauft werden sollten, denn einen durchschnittlichen Apothekenpreis von rund fünf Euro "kann man einem Teil der Bevölkerung nicht zumuten". Wagner bezifferte den Selbstkostenpreis mit einem Euro.
  • Zwei-Meter-Abstand statt des bisherigen Ein-Meter-Babyelefanten-Abstands. Die deutlich infektiösere britische Mutation des Coronavirus erfordere auch eine Anpassung, also Erweiterung, der bisherigen Abstandsregeln.
  • Regelmäßige Corona-Tests der Bevölkerung – je schneller infizierte Menschen herausgefischt werden, umso schneller können Infektionsketten durchbrochen werden.
  • Verpflichtendes Homeoffice Eine in der weitreichenden Form noch nicht geäußerte Forderung Wagners lautet: "Es muss auch Homeoffice verpflichtend werden." Dort, wo es möglich sei, müsse die Arbeit ins Homeoffice verlagert werden. Dies sei auch in Hinblick auf die Schulen und Kindergärten wichtig, wo derzeit teils deutlich über 50 Prozent der Kinder zur Betreuung anwesend sind. "Dass so viele Kinder in den Kindergärten und Schulen in Betreuung sind, hängt ja auch damit zusammen, dass die Eltern arbeiten gehen. Es ist ganz wichtig, dass Homeoffice eingeführt wird und auch verpflichtend gemacht wird. All diese Eltern können und sollten dann Kinder auch zu Hause betreuen", betonte er.

Hintergrund der ganzen Debatte ist die veränderte Dynamik durch die neuen Mutationen, die unterwegs sind, vor allem durch die britische Virusvariante B.1.1.7 "haben wir es mit einer neuen Situation zu tun", sagte der Mikrobiologe Andreas Bergthaler vom Forschungsinstitut für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dieses sei um bis zu 50 Prozent infektiöser, und man könne an Großbritannien und Irland beobachten, "was passiert, wenn sich diese Variante explosionsartig ausbreitet". Es gebe viele Hinweise darauf, dass B.1.1.7 in Österreich "sehr, sehr wahrscheinlich" unterwegs und auch "großflächig" vorhanden sei, warnte Bergthaler. Vier Fälle seien vollständig sequenziert worden, mehr als hundert Verdachtsfälle bekannt.

17 von 30.000 Genom-Buchstaben machen einen großen Unterschied

Er sieht uns in einer Situation, "die man als Game-Changer sehen kann". Die Variablen würden sich ändern durch das Auftauchen neuer Virusvarianten, aber, so Bergthaler: "Es ist noch immer ein Sars.CoV-Virus. Es hat 30.000 Buchstaben im Genom, von denen in der britischen Variante 17 verändert sind." Die bisherigen Gegenmaßnahmen seien "noch immer wirksam", aber man müsse überlegen, welche zusätzlichen Maßnahmen man setzen könne, um britische oder irische Verhältnisse zu verhindern. Und da sei am wichtigsten: Zahlen runter! "Das ist unser Ticket, um möglichst rasch wieder in den Normalzustand zu kommen."

Und wie lange soll dieser "generelle Lockdown ohne Ausnahmen" und "mit klaren Ansagen" statt diverser Unterschiede in Ländern oder Branchen dauern? "Wir denken, dass wir das Ziel mit zwei bis drei Wochen erreichen müssen", sagte Oswald Wagner.

Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH und Gesundheitsökonom, verwendete folgendes Bild, um die aktuelle Situation zu beschreiben: "Wir haben ein Match 'Neue Virusvariante vs. Impfung', wo wir alle einen Beitrag leisten können, wie das Match entschieden wird."

Vor allem gehe es darum, Zeit zu gewinnen. Denn man gehe derzeit davon aus, dass bei der britischen Mutation die Infektiosität um den Faktor 0,5 erhöht ist. Das ergebe bei einem derzeitigen Reproduktionsfaktor von rund 1 eine Verdoppelungszeit bei den Neuinfektionen von circa einer Woche bei der neuen Variante. "Man sieht eine sehr hohe Dynamik."

Diese Verdoppelungszeit könne man nur verlängern, indem man die effektive Reproduktionszahl auch der (derzeit noch vorherrschenden) Wildvariante runterbringt. Wenn es gelingen würde, die effektive Reproduktionsrate auf 0,8 zu drücken, dann vergrößerte sich das Zeitfenster weiter, in dem Maßnahmen greifen können – insbesondere die Impfungen. "Die Reproduktionszahl definiert das Zeitfenster, das verbleibt, um die Bevölkerung mit Impfungen zu schützen", erklärte Ostermann.

Kaiser rechnet mit Lockdown "bis weit in den Februar hinein"

Dass an Lockerungen – gerade auch angesichts der Virusmutation B.1.1.7 – nicht mehr zu denken ist, zeichnete sich bereits Freitagnacht ab. Nach einem Gespräch von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) mit den Landeshauptleuten rechnete Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) mit der Verlängerung des Lockdowns "bis weit in den Februar hinein", wie er zur Austria Presseagentur sagte. Lockerungen wird es seiner Ansicht nach nicht geben, auch die ab dem 25. Jänner angedachte Schulöffnung dürfte seiner Einschätzung nach nicht kommen. Man sei einig, dass die Situation jetzt sehr angespannt sei.

Sozialpartner wollen klare Ansagen und Datum

Nach dem Expertengespräch wurden um 10 Uhr die Sozialpartner im Kanzleramt vorstellig, um ihre Wünsche, Forderungen und Vorschläge für die weitere Pandemiebekämpfung zu äußern. Danach pochten sie auf eine "klare Ansage" und eine "Perspektive" für das Wiederaufsperren nach dem Lockdown.

"Es braucht ein Datum", sagte Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer (ÖVP) nach dem Treffen im Kanzleramt: "Eine klare Ansage ist ein Datum. Ich erwarte mir ein Datum für erste Schritte. Der März wird es nicht sein", sondern ein deutlich früherer Zeitpunkt.

Homeoffice-Rufe gehen Katzian "auf den Hammer"

Auch ÖGB-Chef Wolfgang Katzian forderte Klarheit: "Wir haben klar gesagt, das Ganze bringt nur was, wenn man zum einen die Bevölkerung mitnimmt und zum anderen die Wirtschaft nicht kaputt macht." Zur Homeoffice-Pflicht äußerte er sich skeptisch, wie die APA zitierte: "Irgendwann geht mir das jetzt auch schön langsam auf den Hammer. Weil da tun ja manche so, wie wenn Homeoffice heißt 'Hängematte'. Die müssen ja hackeln, müssen weiter arbeiten, für die Firma arbeiten. Wer glaubt, da kann man nebenbei Kinderbetreuung, Homeschooling machen, Homecooking, die leben am Mond, abseits jeder Realität."

IV-Präsident Georg Knill signalisierte nach dem Treffen Bereitschaft, eine Lockdown-Verlängerung mitzutragen, sofern die produzierende Industrie weiter aufrecht bleiben kann.

Opposition verlangt Klarheit und Transparenz

Die Opposition urgierte Klarheit und Transparenz über die Verlängerung des Corona-Lockdowns. Die Neos forderten schnelleres Impfen und zeigten Verständnis dafür, dass sich die Situation mit der ansteckenderen Virusmutation geändert hat. Die FPÖ ist trotzdem für ein rasches Ende des Lockdowns – und die SPÖ hielt der Regierung einen "Zickzackkurs"vor.

Noch eine Videokonferenz mit den Ländern

Für Samstagabend, gegen 19 Uhr, war, so wurde dem STANDARD mitgeteilt, eine weitere Videokonferenz mit den Landeshauptleuten angesetzt. Sonntagvormittag, vermutlich gegen 11 Uhr, sollen die weiteren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung verkündet werden. DER STANDARD wird natürlich live berichten und tickern. (Lisa Nimmervoll, red, 16.1.2021)