"Schulden belasten das künftige Wachstum", hielt der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff kürzlich in einem "Handelsblatt"-Interview fest. Deshalb werden viele Länder – vor allem auch in Europa – nicht aus ihren Schulden herauswachsen: "Es wird allenfalls darum gehen, das Schuldenniveau zu stabilisieren." Er greift damit ein Thema auf, das vergangene Woche auch hier im Ökonomieblog behandelt wurde, nämlich ob Staaten darauf wetten sollten, dass die Wachstumsrate das Zinsniveau langfristig übersteigt und ihre Staatsschuldenquote dadurch automatisch sinkt. Dies wird in der wirtschaftspolitischen Diskussion oft behauptet. Die wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse dazu sind jedoch ernüchternd.

Dauerhaftes Phänomen

In diesem Beitrag wollen wir die Situation mit einer positiven Wachstums-Zins-Differenz als dauerhaftes Phänomen betrachten und näher analysieren. Auf den ersten Blick steht dieses Phänomen im Widerspruch zur makroökonomischen Theorie. Im neoklassischen Wachstumsmodell, einem der zentralen Modelle zur Analyse langfristiger Entwicklungen in der Wirtschaftswissenschaft, beschreibt eine positive Wachstums-Zins-Differenz nämlich eine Situation dynamischer Ineffizienz. Das bedeutet konkret, dass die Volkswirtschaft zu viel Kapital akkumuliert hat und durch eine Reduktion der Sparquote eine Wohlfahrtssteigerung erzielt werden könnte.

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man berücksichtig, dass die Analyse von Staatsschulden von dem risikolosen Zinssatz auf Staatsanleihen ausgeht, das neoklassische Wachstumsmodell aber von der Kapitalrendite. Diese erwartete Rendite ist aufgrund des damit verbundenen Risikos typischerweise höher als der Zinssatz auf die Staatsschuld, zumindest im Falle solventer Länder.

Auch für die Entwicklung der Staatsschulden spielt die Unterscheidung zwischen risikolosem Zinssatz und (privater) Kapitalrendite eine wichtige Rolle. In einem aktuellen Beitrag analysiert Ricardo Reis von der London School of Economics (LSE) genau jene Konstellation, in der die Zinsen für die Staatsschulden niedriger sind als das Wirtschaftswachstum und dieses wiederum niedriger ist als die Kapitalrendite.

Reis betrachtet zuerst die Folgen der sich aus dieser Konstellation ergebenden öffentlichen Schuldenblase, wie er den Effekt der niedrigen Zinsen auf die Staatsschuld in Analogie zur Finanzmarktspekulation auf ein Zinsdifferential bezeichnet. Die Schlussfolgerungen, die sich aus seiner Analyse ergeben, sind eine Erweiterung und Präzisierung bisheriger Argumente (unter der Annahme einer dauerhaft günstigen Wachstums-Zins-Differenz).

Schuldenblase lockert Beschränkungen

Einmalige, auch hohe Defizite sind mit nachhaltigen Staatsfinanzen vereinbar; die Schuldenquote pendelt sich wieder auf altem Niveau ein. Auch dauerhafte Defizite sind möglich, und deren Barwert kann den aktuellen Schuldenstand um den Barwert der Schuldenblase (die abgezinsten Erträge aus der Rendite-Zins-Differenz) übersteigen. Anders ausgedrückt: Die Schuldenblase lockert die intertemporale Budgetbeschränkung des Staates, aber sie hebt sie nicht auf.

Da die öffentliche Verschuldung mit dem Gesamtvermögen einer Volkswirtschaft begrenzt ist, existiert jedoch eine langfristige Obergrenze für ein permanentes Defizit, deren Wert, ausgedrückt in Prozent des Gesamtvermögens, der Differenz zwischen Wachstumsrate und Zinssatz entspricht. Für die USA errechnet Reis unter der Annahme einer Wachstums-Zins-Differenz von einem Prozent bei unterschiedlichen Kalkulationen des US-Gesamtvermögens eine Obergrenze des jährlichen US-Defizits in Höhe von 2,5 bis 6,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Eine analoge Kalkulation für Österreich liefert eine Defizitgrenze von 1,8 Prozent bis 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wenn man die durchschnittliche Wachstums-Zins-Differenz seit dem Jahr 2000 in Höhe von 0,5 Prozent zugrunde legt. Diese Kalkulationen basieren klarerweise auf der Annahme einer in Zukunft dauerhaft positiven Wachstums-Zins-Differenz in der entsprechenden Höhe.

Wie wirken sich Änderungen des Defizits aus?

Bei den bisher dargestellten Überlegungen geht Reis von der (nicht ganz realistischen) Annahme aus, dass die Zinsen auf die Staatsschuld, die Wachstumsrate und die Kapitalrendite feststehen und von der Höhe des Defizits nicht beeinflusst werden. In einem weiteren Schritt untersucht er daher im Rahmen eines Wachstumsmodells, wie sich Änderungen des Defizits auf die Verzinsung der Staatsschulden und die Wachstumsrate auswirken. Die Kapitalrendite wird dabei weiter als gegeben angenommen.

In diesem Modell führt eine Erhöhung des Defizits infolge der feststehenden Kapitalrendite zu einer Reduktion des Zinsniveaus und damit auch des Zinssatzes auf die Staatsschulden. Das Wirtschaftswachstum kann dabei steigen oder auch fallen, da es zwei gegenläufige Effekte gibt: Einerseits fließen mehr Ressourcen in den weniger produktiven Staatssektor, andererseits sinken die Kreditkosten für Unternehmen – und deren Investitionstätigkeit nimmt zu.

Auch wenn der Effekt, den ein höheres Defizit auf das Wirtschaftswachstum hat, nicht klar ist, so ist es doch eindeutig, dass mit einem höheren Defizit die Differenz zwischen Wachstumsrate und Zinsen steigt. Dadurch wird ein permanent höheres Defizit erst möglich, weil die nachhaltig tragbare Verschuldungsgrenze steigt. In diesem Sinne finanzieren sich Staatsschulden zwar nicht selbst, aber sie erhöhen den Spielraum des Staates zu einer nachhaltig tragbaren Schuldenaufnahme. Allerdings bleibt eine Schranke nach oben bestehen, bei deren Erreichen die Schuldenblase platzt und die Kapitalmärkte den Staat nicht weiter finanzieren. Diese Schwelle liegt umso niedriger, je entwickelter die Kapitalmärkte sind, da hochentwickelte Kapitalmärkte den Geldgebern mehr Ausweichmöglichkeiten bieten. Aufgrund der höheren Wachstums-Zins-Differenz steigt auch die Ungleichheit im Einkommen (und damit auch im Konsum und Vermögenswachstum) zwischen Sparern und Unternehmern, die sich nun in größerem Ausmaß zu einem günstigeren Zins gegenüber den Sparern verschulden können.

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Spiegelbildlich dazu führt eine Besteuerungs- und Transferpolitik, die eine Reduktion der Ungleichheit zur Folge hat, zu einer kleinen Schuldenblase, einem niedrigeren Verschuldungspotenzial des Staates und damit auch zu geringeren staatlichen Ausgaben, die im Sinne einer nachhaltigen Staatsfinanzierung vertretbar sind. Es besteht demzufolge ein politisch brisanter Zielkonflikt etwa zwischen den Ausgaben für öffentliche Infrastruktur und einer Umverteilungspolitik.

Hinsichtlich der Geldpolitik zeigt Reis, dass die erwartete Inflationsrate die staatliche Budgetbeschränkung nicht beeinflusst. Auch der Versuch, Schulden einfach "wegzuinflationieren", ist keine vielversprechende Strategie, weil schockartige Anstiege der Inflation in der Folge zu einer Erhöhung der Ex-ante-Risikoprämie führen, also zu steigenden Zinsen auf die Staatsschulden. Die staatliche Budgetbeschränkung wird somit enger. Durch einen ähnlichen Mechanismus führt eine höhere Volatilität der Inflation zu einem niedrigeren Verschuldungspotenzial. In anderen Worten: Es besteht kein grundsätzlicher Konflikt zwischen einer nachhaltigen Fiskalpolitik und einer auf Preisstabilität abzielenden Geldpolitik, da eine stabile Inflationsrate das Verschuldungspotenzial des Staates maximiert.

Komplexe Staatsschulden

Wie jedes Modell basiert auch jenes von Reis auf einer Reihe von vereinfachenden Annahmen, und die zum Teil überraschenden Schlussfolgerungen müssen sich noch empirisch bewähren. Dessen ungeachtet liegt der große Wert seiner Analyse darin, die Komplexität des Themas der Staatsschulden und von deren Interaktion mit anderen Politikbereichen aufzuzeigen. Ein einfacher Vergleich von Wachstumsrate und Zinssatz auf die Staatsschulden ist offenbar nicht ausreichend, um die Staatsverschuldung zielgerichtet zu steuern. Selbst in Phasen, in denen die Wachstumsrate der Volkswirtschaft höher ist als die Zinsen auf die Staatsschulden – was nicht als Dauersituation angesehen werden kann –, gibt es Obergrenzen für die Staatsverschuldung. Reis liefert somit einen wichtigen Beitrag zu der von Blanchard geforderten vertieften Diskussion von Kosten und Nutzen von Staatsschulden, die auch in der wirtschaftspolitischen Debatte in dieser Differenziertheit zu führen wäre. (Harald Badinger, 19.1.2021)