Eine gemeinsame Recherche von STANDARD, "Profil" und "ZiB 2" brachte vergangene Woche neue Turbulenzen innerhalb des Justizsystems zutage. Das sind schlechte Nachrichten, denn erfolgreiche Korruptionsverfolgung braucht vor allem Ruhe und Entschlossenheit innerhalb der Strafverfolgung.

Die aktuellen Kalamitäten, die sich nun seit Jahren aufbauen und auch öffentlich ausgebreitet werden, sind in der Struktur des österreichischen Staatsanwaltschaftssystems angelegt. Dass sie erst jetzt so öffentlich werden, ist allein dem Geschick früherer Funktionsträger zuzuschreiben.

Berichte nach oben

Worum geht es? Richterinnen und Richter sind unabhängig; sie müssen niemandem berichten und sind an keine Weisungen gebunden. Ganz anders ist es bei Staatsanwältinnen und Staatsanwälten: Sie sind weisungsgebunden, eine lange Kette prüfender Stellen steht über ihnen. Am Ende der Weisungskette steht der Justizminister. Ermittelt eine Staatsanwältin etwa gegen den Finanzminister und plant Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen, Festnahmen, dann ist sie bei diesen Ermittlungen an Weisungen des Justizministers gebunden – und muss laufend alle Schritte nach oben berichten, was zu erheblichen Verzögerungen führt und auch viel Raum für das Hinausdringen von Informationen aufmacht. Vor allem die vielen Berichte in politisch heiklen Causen demotivieren Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und binden Ressourcen, die für die Ermittlungen gebraucht würden. Eine der stärksten österreichischen Staatsanwältinnen hat vor kurzem das Handtuch geworfen – wenig verwunderlich.

Zur Weisungsgebundenheit kommt ein zweiter Punkt, der in der Diskussion meist übersehen wird: Das Justizministerium entscheidet auch über die Karrieren von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten. Junge Staatsanwältinnen und Staatsanwälte werden, wenn sie nicht mit Naivität geschlagen sind, gemischte Gefühle haben, wenn sie gegen Parteikollegen oder Regierungspartner des aktuellen Justizministers ermitteln.

Das Justizministerium muss den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Glaubwürdigkeit wieder herstellen

Die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaften vom Justizminister beziehungsweise der Justizministerin schwächt das System der öffentlichen Anklage, ganz besonders naturgemäß im Bereich der Verfolgung von Korruption und Wirtschaftskriminalität. Eine Weisungsgebundenheit gegenüber der Politik gibt es außer in Österreich nur mehr in Deutschland; dort arbeitet man an einer Reform. Alle anderen EU-Mitglieder haben ihren Staatsanwaltschaften bereits mehr politische Unabhängigkeit eingeräumt – mit dem österreichischen System wäre ein EU-Beitritt heute nicht mehr denkbar, es entspricht nicht mehr rechtsstaatlichen Standards.

Das aktuelle Regierungsprogramm will den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen – die aktuellen Vorgänge zeigen, es ist fünf vor zwölf. Die Regierung muss, will sie in der Korruptionsbekämpfung glaubwürdig bleiben, rasch handeln. Es gibt unterschiedliche Vorbilder für eine Reform, bis hin zum italienischen Modell, das am weitesten geht und unter dem Aspekt entschlossener Ermittlungen gegen Korruption und Wirtschaftskriminalität am überzeugendsten ist: völlig unabhängige Staatsanwaltschaften. Diese Unabhängigkeit hat es Italiens Staatsanwaltschaften ermöglicht, dass vor wenigen Tagen der größte Mafiaprozess seit mehr als 30 Jahren starten konnte. Der bekannte Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri klagte mehr als 350 Mafiosi an. Die Kontrolle der Staatsanwaltschaften ist auch in einem solchen Modell garantiert: Denn das gesamte staatsanwaltschaftliche Handeln steht immer unter der Kontrolle der Gerichte. Es braucht keine Bürokratien, die engagierten Ermittlerinnen und Ermittlern Hölzer zwischen die Beine werfen und sie an die Leine nehmen. (Oliver Scheiber, 20.1.2021)