Die Freiheit währte nur kurz: Eilprozess gegen Kremlkritiker Alexej Nawalny.

Foto: APA / dpa / Michael Kappeler

Moskau/Berlin/Helsinki – Nach der Festnahme des russischen Regierungskritikers Alexej Nawalny stoßen westliche Länder mit ihrer Forderung nach sofortiger Freilassung des 44-Jährigen im Kreml auf taube Ohren. Nach dem Flug von Berlin nach Moskau am Sonntag hatte von Nawalny zunächst jede Spur gefehlt. Am Montag fand er sich plötzlich vor einem Gericht in einem Polizeigebäude wieder. Dort machte ihm die russische Justiz einen Eilprozess – und verurteilte ihn zu 30 Tagen Haft, weil er gegen Meldeauflagen aus einem früheren Prozess verstoßen habe.

Nawalny werde bis 15. Februar in Gewahrsam bleiben, sagte seine Sprecherin. Zuvor hatte die russische Staatsanwaltschaft nach Angaben eines Nawalny-Vertrauten einen entsprechenden Antrag gestellt.

Vorgangsweise "beispiellos"

Juristen kritisierten das Verfahren als beispiellos – selbst für russische Verhältnisse. In einem Twitter-Video beklagte Nawalny, dass die russische Justiz eine neue Stufe der Gesetzlosigkeit erreicht habe. "Ich habe oft gesehen, wie der Rechtsstaat ins Lächerliche gezogen wird, aber dieser Opa in seinem Bunker fürchtet sich inzwischen so sehr (...), dass nun einfach der Strafprozesskodex zerrissen und auf die Müllhalde geworfen wird", sagte Nawalny in dem improvisierten Gerichtszimmer. Mit "Opa in seinem Bunker" meint Nawalny den russischen Präsidenten Wladimir Putin. "Es ist unmöglich, was hier passiert."

Ohne Vorbereitung

Nawalnys Anwälte hatten ein Schreiben über den Beginn einer Gerichtsverhandlung in dem Polizeigebäude erhalten, die umgehend eröffnet wurde, ohne dass sich jemand hätte vorbereiten können. Zuvor hatten seine Anwälte und Mitarbeiter erklärt, dass von dem Oppositionellen jede Spur fehle. Die Anwältin Olga Michailowa beklagt seit Sonntagabend, dass sie ihren Mandanten nicht betreuen dürfe. Sie werde nicht zu ihm gelassen, sagte sie dem Radiosender Echo Moskwy. Michailowa hatte Nawalny am Flughafen Scheremetjewo am Sonntag zwar gesehen, Uniformierte verwehrten ihr allerdings, ihn zu begleiten, wie auf einem Video zu sehen war.

Auch Menschenrechtler stünden vor dem Polizeigebäude und hätten keinen Zugang, sagte Michailowa. Sie warf den Polizeibehörden Gesetzesverstöße vor, weil Nawalny der rechtlich vorgesehene Schutz verwehrt werde.

Nawalny war am Sonntag nach fünf Monaten in Deutschland, wo er nach einem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok in Behandlung war, nach Moskau geflogen und wurde sofort festgenommen. Ihm drohen dreieinhalb Jahre Haft, weil er mit seinem Aufenthalt in Deutschland gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen habe. Nawalny kritisiert das Vorgehen gegen ihn als politisch motiviert.

"Schweigt nicht! Wehrt euch!"

In einem von seiner Sprecherin Kira Jarmysch veröffentlichten Video rief Nawalny selbst am Montagnachmittag zum Protest auf. "Habt keine Angst, geht auf die Straße!", sagte er noch im Verhandlungssaal. Die Menschen sollten nicht für ihn auf die Straße gehen, sondern für ihre eigene Zukunft – für ein freies Russland. Das Land degeneriere unter dem seit mehr als 20 Jahren regierenden Kreml-Chef Wladimir Putin. "Schweigt nicht! Wehrt euch! Wir sind viele und können etwas erreichen." Damit scheint er den Kreml abermals herausfordern zu wollen: Protestaufrufe dieser Art werden in Russland immer wieder hart bestraft.

Freilassung gefordert

Zuvor forderten bereits unzählige Länder, darunter Deutschland, Großbritannien und mehrere nordeuropäische Staaten, eine umgehende Freilassung Nawalnys. Russland sei durch seine eigene Verfassung und durch internationale Verpflichtungen an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und an den Schutz der Bürgerrechte gebunden, sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas: "Diese Prinzipien müssen selbstverständlich auch gegenüber Alexej Nawalny zur Anwendung kommen. Er sollte unverzüglich freigelassen werden." Nawalny sei nach seiner Genesung aus eigenen Stücken und bewusst aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt, weil er dort seine persönliche und politische Heimat sehe.

"Der russische Oppositionspolitiker Nawalny muss unverzüglich freigelassen werden", schrieb die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin auf Twitter. Russland solle Nawalnys Vergiftung untersuchen und die Rechte der Opposition schützen, die zu jeder Demokratie gehörten. Finnland hat die längste Landgrenze aller EU-Länder mit Russland.

"Die Welt schaut zu"

Ähnlich äußerten sich Dänemark und Schweden. Sie rufe die russischen Behörden auf, Nawalny freizulassen, sagte die schwedische Außenministerin Ann Linde. Der dänische Außenminister Jeppe Kofod schrieb auf Twitter, Nawalnys Festnahme sei so erwartbar wie inakzeptabel gewesen. Die russischen Behörden hätten noch immer keine Antworten auf die Fragen zur Vergiftung gegeben. "Die Welt schaut zu!", fügte er hinzu.

Dass die russischen Behörden Nawalny, "das Opfer eines abscheulichen Verbrechens", festgenommen hätten, sei empörend, twitterte der britische Außenminister Dominic Raab. Anstatt Nawalny zu verfolgen, "sollte Russland erklären, wie eine chemische Waffe auf russischem Boden zum Einsatz kam".

Zuvor hatten bereits die EU, die USA und auch das österreichische Außenministerium Nawalnys Freilassung gefordert. Dem schlossen sich die Grünen an: "Russland verhöhnt mit diesem Vorgehen seinen eigenen Anspruch der Rechtsstaatlichkeit. Anstatt mit aller Gewalt Oppositionspolitiker*innen zu verfolgen, welche die Korruption der Machtelite aufdecken, sollte die russische Justiz besser Strafermittlungen einleiten, um den perfiden Mordversuch an Nawalny aufzudecken", erklärte die grüne Außenpolitik- und Menschenrechtssprecherin Ewa Ernst-Dziedzic.

Verstimmungen vertieft

Der Fall hat zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Deutschland und Russland geführt. Wie auch andere westliche Staaten spricht Deutschland von einem Mordversuch. Nawalny behauptet, dass ein "Killerkommando" des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB unter Putins Befehl ihn habe töten wollen. Die russische Regierung weist jede Verwicklung in den Vorfall zurück.

Außenminister Sergej Lawrow forderte von Deutschland am Montag – trotz der Laborbefunde – einmal mehr Beweise für eine Vergiftung. "Erfüllen Sie Ihre internationalen Verpflichtungen", sagte Lawrow bei einer Online-Pressekonferenz. Russland habe bei Nawalny keine Nowitschok-Vergiftung nachweisen können und leite deshalb keine Ermittlungen ein. Lawrow schlug vor, dass russische Ärzte und ihre westlichen Kollegen gemeinsam die Proben untersuchen könnten – "damit Vertrauen entsteht". Die Antworten aus Deutschland auf russische Rechtshilfeersuchen im Fall Nawalny seien hingegen "unwürdig".

Sanktionen gegen Machtapparat

Die EU hat wegen des Anschlags auf Nawalny weitere Sanktionen gegen Vertreter des russischen Machtapparats verhängt, die unter anderem schon wegen der Annexion der Krim und der russischen Ukraine-Politik bestanden. (APA, Reuters, dpa, AFP, red, 18.1.2021)