"20 Shots of Opera": ein Streifzug durch brisante Themen und die Psyche des Lockdown-Menschen.

Foto: Irish National Opera

Schon bevor der Mensch in der Corona-Pandemie zur Verschlusssache erklärt wurde, mauserten sich Klapprechner, Wischtelefon und Elektrotablett zum bequemen Passepartout für die Welt. Ob Archiv, Bibliothek oder Bank, ob Reisebüro, Partnerschaftsinstitut oder Sexshop, ob Supermarkt, Shopping-Center oder Zeitung: Die handliche digitale Dienerschaft brachte die weite Welt mit wenigen Klicks ins Wohnzimmer.

Auch der Besuch von Konzerten und Opernaufführungen verlegte sich mit den ad infinitum verlängerten Lockdowns zusehends vor den Flachbildschirm. Weltweit öffneten Konzert- und Opernhäuser – mitunter gegen Entgelt, oft gratis – ihre digitalen Speicher und offerierten Streamings aller Arten und Längen. Gut so. Und doch: Es waren und sind meist historische Höhepunkte, die hier präsentiert werden.

Irish National Opera

Die Irish National Opera hat nun das Ruder herumgerissen und die Krise als Katalysator für Kreativität genutzt. Mitte des letzten Jahres wurden bei irischen Kunstschaffenden Kurzopern in Auftrag gegeben, die sich mit der heutigen Gesellschaft beschäftigen sollten. Nun wurden die 20 Shots of Opera online gestellt. Es handelt sich dabei um sechs- bis achtminütige Werke, die als hochkonzentrierte Miniopern das Genre beleben.

Schmerzliche Kluft

Mit der Pandemie und deren Folgen im Sozialleben beschäftigt sich nur eine Minderzahl der Musiktheaterminiaturen. Glaoch von Linda Buckley etwa thematisiert die schmerzliche Kluft zwischen dem analogen Gestern und den digitalen Facetime-Zeiten. Von den ganz konkreten Pandemie-Verhaltensregeln wie Abstand und Hygiene erzählt wiederum Jenn Kirbys Zwei-Personen-Stück Dichotomies of Lockdown. Und Hannah Peels Close schildert die vorsichtige Annäherung zweier Liebender.

Belastung der Natur? Kommt vor. Mit ihr beschäftigt sich Ghost Apples von Irene Buckley: Konkret thematisiert das kleine Werk den Plastikmüll in unseren geplagten Meeren, die auch Benedict Schlepper-Connolly nicht egal sein dürften. Sein Opus Dust beschreibt einen ökologischen Kollaps. Doch nicht alles in dem 20er-Pack ist tragisch angelegt.

Irish National Opera

Im Eröffnungswerk Mrs Streicher von Gerald Barry, einer Humoreske für Tenor und Tuba, nimmt man teil am Zores, den Ludwig van Beethoven mit seinem Hauspersonal hatte. Vulkanische Wut dominiert auch Conor Mitchells A Message for Marty. Nachdem Marty mit Jackie per SMS Schluss gemacht hat, macht ihm deren große Schwester am Telefon die Hölle heiß.

Bandbreite und Qualität

Was hier ebenfalls zum Amüsement beiträgt: Die Trash-Tragödie wurde von Davey Kalleher im Stil einer RTL-Reality-Soap verfilmt. Die Bandbreite und die Qualität der Inszenierungen und der filmischen Umsetzungen der XS-Opern stellen sowieso einen Pluspunkt dieses innovativen Projektes dar.

Unter den gut 160 Künstlerinnen und Künstlern, die an der Entstehung 20 Shots of Opera beteiligt waren, befanden sich offensichtlich auch zahlreiche gute Filmregisseure und Videodesigner. Hugh O’Conors filmische Umsetzung von Robert Colemans The Colour Green, die sich mit einem Leben ohne Technologie beschäftigt, erinnert an eine Graphic Novel; Caitriona McLaughlins Verfilmung von David Coonans Minikrimi Verballing hat comichafte Elemente. Wundervoll auch die Schwarz-Weiß-Filmwelten von The Patient Woman (Regie: Muireann Ahern, Louis Lovett).

Irish National Opera

Fragile Ballade

Die musikalischen Mittel, mit denen die 20 Komponistinnen und Komponisten ihre Geschichten erzählen, sind reduziert, divers – und mitunter auch recht retro. So wählt Schlepper-Connolly für Dust etwa die Form einer traditionellen Ballade, die er instrumental in subtiler Weise unterfüttert. Als Ballade mit reduzierter, fragiler Begleitung erzählt Peter Fahey auch Through and Through. Toll auch Michael Gallens At a Loss: Sein abwechslungsreicher, farbiger Sechsminüter hat eine dramaturgische Struktur und eine Entwicklung.

Zugegeben: Natürlich enttäuschen auch einige der Werke, verlieren sich in Verrätselung und Monotonie. In Summe erweist sich das von Fergus Sheil, dem künstlerischen Leiter der Irish National Opera, initiierte Projekt als eine erfrischende Unternehmung: als Demonstration, dass es in einer Phase des Rückzugs künstlerisch auch vorwärtsgehen kann. (Stefan Ender, 19.1.2021)