Mit dem Eigenschaftswort "charismatisch" bezeichnet man Politiker, die mit einer besonderen Ausstrahlungskraft Menschen gewinnen können. Charisma ist aber in der Politik eine vergängliche Kraftquelle, und es verblasst schnell, wenn die einst geweckten Erwartungen enttäuscht werden.

Es gibt viele Beispiele dafür, wie rasch sich jedes Charisma mit dem Sturz des Politikers verflüchtigen kann. Im politischen Wechselspiel entsteht dann eine potenziell gefährliche Situation, wenn sich ein irrational agierender Politiker nach dem Amtsverlust von rational einleuchtenden Argumenten nicht beeinflussen lässt. Wenn die Politik in einer Demokratie in Bewegung gerät, kommt an einem Wendepunkt auch ein solcher persönlicher Faktor zum Tragen wie die Rachsucht eines Politikers, der seine charismatische Wirkung nach einem kurzen Zeitraum verloren hat.

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Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte.
Foto: AP/Alessandra Tarantino

Für diesen Vorgang bietet dieser Tage der Zusammenbruch der 66. Regierung Italiens seit dem Zweiten Weltkrieg ein auch international aufsehenerregendes Beispiel. Mitten in der zweiten Welle der Pandemie mit bisher 81.000 Toten und mitten in der Debatte über die sinnvollste Verwendung von 209 Milliarden Euro an Zuschüssen und Darlehen aus dem Wiederaufbaufonds der Europäischen Union soll der populäre parteilose Rechtsprofessor Giuseppe Conte als Ministerpräsident gestürzt werden. Warum? Der seit Juni 2018 regierende Ministerpräsident der Mitte-links-Koalition ist weiterhin sehr populär; 55 Prozent der Italiener möchten ihn laut Umfragen als Regierungschef behalten.

Splitterpartei

Als Sprengmeister bei der Regierungskrise wirkt der frühere sozialdemokratische Ministerpräsident (2014–2016) Matteo Renzi, der Conte öffentlich Unfähigkeit vorgeworfen und die Minister seiner linksliberalen Kleinpartei Italia Viva aus der Koalitionsregierung abgezogen hat. Mit dem ehemaligen Bürgermeister von Florenz sind Höhe-, aber auch Tiefpunkte der italienischen Linken verbunden.

Im Alter von 39 Jahren wurde er Regierungschef und führte die Sozialdemokraten bei den Europawahlen vom Mai 2014 zu einem Rekordergebnis von 41 Prozent. Danach folgten katastrophale Niederlagen: Bei dem von ihm forcierten Verfassungsreferendum (Dezember 2016) stimmten 60 Prozent der Italiener mit "Nein". Renzi trat als Ministerpräsident zurück. Bei den Parlamentswahlen vom März 2018 stürzte seine Partei auf 18 Prozent ab, und er gab die Parteiführung ab.

Im Herbst 2019 brach Renzi schließlich mit den Sozialdemokraten und gründete mit seinen Anhängern die kleine Splitterpartei Italia Viva. Mit der Sprengung der Conte-Regierung hatte er sich wieder ins Spiel bringen wollen. Nach dem sinnlosen Machtpoker würde seine Partei bei Neuwahlen bloß drei Prozent bekommen.

Der überfordert wirkende Conte will Regierungschef bleiben. Sowohl Staatspräsident Sergio Mattarella wie auch die zerstrittenen Koalitionsparteien möchten Neuwahlen vermeiden, die die von Matteo Salvinis Lega angeführte rechtsnationalistische Opposition gegenwärtig klar gewinnen würde.

Mit oder ohne Conte gibt es keinen schnellen Ausweg aus der Krise, für die die Schuld nicht nur bei Renzi liegt, wenn auch der unberechenbare Egomane sich wieder einmal als Sprengmeister erwiesen hat. (Paul Lendvai, 19.1.2021)