Die Reaktionen aus Europa und den USA kamen rasch, und sie waren weitgehend deckungsgleich: Der im Sommer vergiftete und danach in Deutschland medizinisch behandelte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny, der am Sonntagabend bei seiner Rückkehr nach Moskau noch auf dem Flughafen verhaftet wurde, müsse umgehend freigelassen werden.

Dass die zahlreichen Wortmeldungen zur Eskalation im Fall Nawalny so prompt eintrafen, hatte auch mit der Vorhersehbarkeit des Spektakels zu tun. Fast alles verlief nach Drehbuch: die lange vorher angekündigte Reise Nawalnys, der gar nicht daran denkt, sich vom Kreml einschüchtern zu lassen; und auch die Festnahme bei der Ankunft, zu der es kaum Alternativen gab, nachdem Moskau eine Drohkulisse aufgebaut hatte, um sich Nawalny vom Leib zu halten.

Kreml-Kritiker Alexej Nawalny.
Foto: imago/Sergei Bobylev

Auch inhaltlich finden westliche Regierungsvertreter genug Kritikpunkte, die eine klare Sprache rechtfertigen. Zur Erinnerung: Nawalny war im August während eines Inlandsflugs zusammengebrochen. Dass der Kreml bestreitet, hinter dem Angriff zu stehen, ist nicht weiter überraschend, und offizielle Gegenbehauptungen aus dem Ausland würden bestenfalls in die diplomatische Sackgasse führen. Dass Moskau aber sogar eine Untersuchung des Falls ablehnte, bei dem ein russischer Staatsbürger auf russischem Territorium zu Schaden kam, erscheint als Karikatur auf den Rechtsstaat und rollt Kritikern im Ausland und ihren schwer zurückzuweisenden Vorwürfen den roten Teppich aus.

Ansehen des Landes

Die Liste lässt sich fortsetzen. Etwa mit der Antwort von Präsident Wladimir Putin auf eine Journalistenfrage zur Rolle des Inlandsgeheimdiensts FSB: Wenn man Nawalny hätte vergiften wollen, dann wäre das wohl zu Ende geführt worden, erklärte er. Mag sein, dass manch einer so viel demonstrative Offenheit amüsant findet. Doch sie bedroht nicht nur die Opposition, sondern auch die Kunst der Diplomatie und das Ansehen des Landes.

Die internationale Kritik an der Verhaftung und Aburteilung Nawalnys ist völlig gerechtfertigt. Sie bedeutet nicht – und soll auch nicht bedeuten –, dass die Gesprächskanäle mit Moskau nun gekappt sind. Es erfordert aber immer größere Anstrengungen, sie glaubwürdig für die Verbesserung des schwer beschädigten Verhältnisses zu nutzen. Deutschland etwa, das in der Causa Nawalny in der ersten Reihe steht, aber bei der Gaspipeline Nord Stream 2 mit Russland wirtschaftliche Interessen teilt, weiß ein Lied davon zu singen. Und auch die US-Regierung unter Joe Biden, die am Mittwoch die Geschäfte aufnimmt, hätte sich wohl einen sanfteren Start in die bilateralen Beziehungen gewünscht.

Bei alldem muss eine Frage im Auge behalten werden: Warum zeigt Putin seinen Kritikern im Ausland so bereitwillig eine offene Flanke? Fürchtet er den angeblich unbedeutenden Blogger Nawalny, dessen Namen er nie in den Mund nimmt, so sehr? Oder muss er den Kampf gegen ihn führen, um anderen Machtzentren in Moskau zu zeigen, wer der Herr im Haus ist? Europa und die USA sollten sich bei der Gestaltung des Verhältnisses zu Russland auch mit einem eher ungewohnten Gedanken befassen: dass Putins Umgang mit Nawalny nicht unbedingt zu einem Staatschef passen muss, der den Eindruck hat, wirklich fest im Sattel zu sitzen – und aus einer souveränen Position heraus internationale Politik machen zu können. (Gerald Schubert, 18.1.2021)