Schönheit ist für Patricia Urquiola etwas, das durchaus von einer Art Unordnung und Kontrasten herrühren kann.

Foto: Nicola Carignani

Die spanische Stardesignerin Patricia Urquiola mit Studio in Mailand steht in den Diensten der renommiertesten Möbelhersteller.

Foto: A. Campanella, Courtesy Frame Magazine

Patricia Urquiola redet so schnell wie der sprichwörtliche Wasserfall. Die Sprechpausen am Telefon dauern keine halbe Sekunde. Ausgefüllt werden sie durch ein "Ecco". Die Spanierin mit Studio in Mailand ist kaum zu fassen, weder sprachlich, noch was ihre Entwürfe für die begehrtesten Hersteller aller möglichen Objekte betrifft. Es heißt also: Ohren spitzen!

STANDARD: Wie hat die Corona-Krise die Bedeutung von Design verändert?

Patricia Urquiola: Die Krise verändert alles und alle. Wir erleben etwas, das wir nicht wirklich kontrollieren können. Es ist nötig, sich eine Art "neuen Kompass" zu besorgen. Auch wir Kreativen bewegen uns jetzt viel mehr in der digitalen Welt. Wir müssen uns wandeln, wie Amphibien.

STANDARD: Und wie gehen Sie das an?

Urquiola: Es geht nicht nur darum, neue digitale Werkzeuge zu benützen, sondern darüber nachzudenken, wie man sich ihnen anpassen kann. Und umgekehrt. Denken Sie nur an die ganzen Meetings, die digital stattfinden. Ich muss während der Lockdowns Projekte mit Menschen über Zoom austüfteln. Dabei wohnen diese Leute gleich um die Ecke von mir. Das beeinflusst jede Gesellschaft. Sie hätten mich anlässlich dieses Gesprächs doch auch lieber in Mailand besucht, oder?

STANDARD: Keine Frage, gerade weil Sie wohl die berühmteste Designerin unserer Zeit sind. Das kann man doch so sagen, oder?

Urquiola: Ich empfinde diese Aussage als witzig und ein bisschen provokant, aber ich lasse Sie gewähren.

STANDARD: Aber es fühlt sich schon gut an ...

Urquiola: ... jetzt hören Sie schon auf! Ich glaube an das, was ich tue, und das jeden Tag. Das ist alles. Und es gibt ganz wunderbare Kolleginnen, denken Sie nur an Neri Oxman oder Hella Jongerius. Also Schluss jetzt damit!

STANDARD: Okay. Die Zunft des Designs ist eine sehr männlich dominierte. In der Kunst gibt es zum Beispiel mehr große Frauennamen. Warum ist das so?

Urquiola: Ich beschäftige mich nicht wirklich mit dieser Frage. Es geht nicht um Geschlechter. Es geht in unserem Job darum, sich voller Passion mit Entwürfen auseinanderzusetzen. Wir gestalten nicht für Frauen oder Männer, sondern für Menschen. So sieht das auch mein ganzes Team. Was natürlich nicht bedeutet, dass für die Situation der Frauen nicht noch viel getan werden muss. Aber das gilt für so viele Bereiche. Und da ist die Politik gefragt.

Liege aus der Kollektion "Tropicalia" von Moroso.
Foto: Hersteller

STANDARD: Gestalten Frauen anders als Männer?

Urquiola: Es gibt so viele verschiedene Typen von Menschen, egal ob es sich um Frauen oder Männer handelt. Es geht um die Gestaltung für eine Gesellschaft, und ich denke, das sehen auch meine männlichen Kollegen so. Alles andere würde uns nur Grenzen setzen, die nicht gut für unsere Arbeit wären.

STANDARD: Die meisten Ihrer Objekte wirken sehr lebendig, warm und freundlich. Manche Möbel scheinen einen umarmen zu wollen. Würden Sie dem zustimmen?

Urquiola: Ich hoffe, dass es so ist, falls Sie von einer Umarmung im übertragenen Sinn sprechen. Ich glaube sehr stark an Empathie. Und die benötigt es im Umgang mit Unternehmen, aber natürlich vor allem, was den Endverbraucher betrifft. Es geht um eine offene Haltung. Man sollte das im Produkt fühlen! Ohne diese Werte gelingt es nicht, eine Beziehung zwischen Dingen und Menschen aufzubauen.

STANDARD: Jemand umschrieb Ihren Stil einmal mit "freaky freedom", das heißt so viel wie "ausgeflippte Freiheit". Was sagen Sie dazu? Trifft dies zu?

Urquiola: Wissen Sie, in dem Moment, in dem jemand einen Stil benennt, äußert er eine Meinung, die ich nicht wirklich beurteilen will. Es gibt niemals nur eine Art, Dinge zu benamsen. So eine Definition bringt mich zum Lächeln. Mehr nicht. Mein Job ist viel komplexer, als dass man ihn mit einer solchen Bezeichnung abtun könnte. Es sind Analyse- und Entwicklungsprozesse, die im Vordergrund stehen.

Auch in den Diensten der renommierten Textilfirma Kvadrat steht Patricia Urquiola.
Foto: Hersteller

STANDARD: Wie gehen Sie mit Entwürfen um, die nicht so hinhauen, um es lapidar auszudrücken, also Objekte, die nicht so gelungen sind?

Urquiola: Ich denke, dass Scheitern durchaus hilfreich sein kann, also zum Teil eines Prozesses gehört. Innovation basiert immer auf einem Austausch von Gedanken, von Ideen, Stimmungen. Und da kann auch einmal etwas danebengehen. Ich sehe dies und Innovation als eine Haltung.

STANDARD: Sie sagen, dass Ihre beiden Töchter Sie betreffend Ihren Umgang mit Design sehr verändert haben. In welchem Sinne?

Urquiola: Meine Töchter sind Teil meines Lebens und somit auch meiner Arbeit. Als sie auf die Welt kamen, wollte ich sie nicht von der Welt meines Studios trennen. Dadurch entstand ein neuer Mikrokosmos aus Arbeit, Familie, Team etc. Und der wirkt sich natürlich auch auf meine Entwürfe aus. Man wächst über sich hinaus.

STANDARD: Da fällt mir das Thema Inspiration ein.

Vom Strichcode inspiriert: Schreibtisch "Codex" von Molteni.
Foto: Hersteller

Urquiola: Ich sage immer, Inspiration ist nicht etwas, das man irgendwo aufschnappt. Inspiration hängt stark vom kulturellen Gepäck ab, das man mit sich herumträgt. Also davon, wie, wo, wann und mit wem man aufgewachsen ist usw. Jeder von uns geht anders mit diesem Gepäck um, und jeder versteht etwas anderes unter den kulturellen Werten, denen er begegnet. Zwei Menschen können in ein und demselben Raum von sehr verschiedenen Dingen inspiriert werden.

STANDARD: Corona verunmöglicht auch diesbezüglich so manche Begegnung.

Urquiola: Ja, das stimmt, aber auch die digitale Welt beeinflusst unsere Kultur, und das schon eine ganze Weile. Dadurch entstehen starke Kontraste, und ich hoffe, dass die Überwindung dieser Kontraste auch zu einer Aufwertung der Kultur des Zusammenlebens führen kann.

STANDARD: Da muss ich an Philippe Starck denken, der mir in einem Interview sagte, dass das moderne Design in den 1950ern startete und in den nächsten 30 Jahren verschwinden wird. Er meinte, es geschehe eine Dematerialisierung und es würde nur mehr um Digitalisierung gehen. Würden Sie ihm recht geben?

Urquiola: Hat er das vor der Corona-Krise gesagt?

STANDARD: Ja.

Urquiola: Dann ist es ewig her. Jahrhunderte. Das vergangene Jahr hat unser Zeitempfinden total verschoben. Ich stimme Starck zu. Als er mit Ihnen sprach, waren wir uns einer digitalen Zukunft bewusst, aber noch kein Mensch wusste, was zum Beispiel Social Distancing sein soll. Jetzt praktizieren wir es gezwungenermaßen. Und die Kommunikation funktioniert digital. Wir lernen also gerade viel über hybride Werte in Sachen Kommunikation. Dem werden Generationen von neuen aufgeklärten Machern folgen.

Badewanne mit "Krippenflair" von Agape.
Foto: Hersteller

STANDARD: Geht es ein bisschen konkreter?

Urquiola: Ich finde es sehr spannend, wie die Kreativen im digitalen Bereich die Oberflächen verändern. Stellen Sie sich vor, Sie berühren etwas, und es verändert die Form in dem Moment, da Sie das Objekt angreifen. Ich stelle mir Membranwände vor, die auf den Tastsinn reagieren. Auch das Licht wird sich viel mehr in unsere Räume integrieren. Klar ist die Sache noch ganz schön komplex.

STANDARD: Zurück in die analoge Welt. Der großartige Achille Castiglioni war Ihr Lehrer und Mentor. Erzählen Sie doch ein bisschen von ihm.

Urquiola: Wenn ich an Castiglioni denke, sehe ich diese Leichtigkeit, empfinde aber auch großen Respekt. Er war ein Meister, wenn es darum ging, persönliche Werte in einen Designprozess umzuwandeln. Er war klar, neugierig und freiheitsliebend, sanft und konsequent zugleich. Auch wollte er etwas Zeitloses schaffen, und das ist ihm gelungen. Und ein Poet war er obendrein. Ich sehe ihn vor meinen Augen auf seinem spinnenbeinigen Möbel "Allunaggio" sitzen, nachdenken und genüsslich eine Zigarette rauchen.

STANDARD: Eines Ihrer aktuellsten Projekte ist eine Zusammenarbeit mit der renommierten Textilfirma Kvadrat. Was ist der Unterschied zu anderen Projekten, immerhin fehlt fast eine Dimension?

Urquiola: Ich arbeite schon länger mit Kvadrat, und ich lernte dabei viel, denn als Designerin und Architektin arbeitete ich immer mit dem dreidimensionalen Raum. Vor allem wurde mir klar, wie sehr die Qualität von Oberflächenbeschaffenheiten Räume beeinflusst. Sie sind die Haut von Dingen und Räumen. Denken Sie nur an die Rolle, die Teppiche spielen können, die zu "smarten" Oberflächen werden. Diese Lektion wirkte sich auch auf meinen Umgang mit anderen Materialien aus, egal ob Glas, Keramik oder Holz. All das hat großen Einfluss auf meine Architekturprojekte.

STANDARD: Frau Urquiola, wann haben Sie zuletzt etwas gesehen und gesagt: "Oh, wow, das ist aber schön!"

Urquiola: Das passiert mir jeden Tag. Schönheit kann auch eine Erkenntnis inmitten eines Prozesses sein, etwas, das wir während unserer "Research" erfahren. Schönheit kann von einer Art Unordnung herrühren. Kontraste bilden oft die interessantesten Formen von Harmonie. Dabei handelt es sich um eine Form von Schönheit, die schwer zu planen ist. Und die fasziniert mich jeden Tag aufs Neue. (Michael Hausenblas, RONDO, 25.1.2021)