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Mit ausgefeilten Messmethoden versuchen Forscher, die Signale des Gehirns zu entziffern und letztlich Gedanken abzulesen – üblicherweise per EEG-Haube.

Foto: Reuters / Michaela Rehle

Das US-Militär ist bekannt dafür, Unsummen in die Erforschung und Entwicklung neuer Technologien zu investieren. So auch in Gehirn-Computer-Schnittstellen, die das menschliche Denkorgan mit externen Geräten verknüpfen. Seit den frühen 2000er-Jahren flossen hunderte Millionen US-Dollar in Forschungsprojekte bezüglich Brain-Computer-Interfaces, kurz BCI.

Viele der angedachten Innovationen klingen nach kühner Science-Fiction: Etwa der Gefechtshelm zur Emotionskontrolle, der den psychischen Status von Soldaten überwacht. Mithilfe eines BCI-Systems könnten Angst oder Schmerz reguliert werden, so Militärstrategen. Entwicklungen dieser Art beschäftigen das Army Research Laboratory (ARL), Förderagenturen wie die Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) finanzieren entsprechende Forschungen, Kooperationen mit Universitäten sind an der Tagesordnung.

Hirn-zu-Hirn-Kriegsführung

Ein weiterer Ansatz fasst gar Telepathie ins Auge und soll irgendwann an der Front eine direkte Hirn-zu-Hirn-Kommunikation zwischen Militärs ermöglichen. Da es auf dem Feld immer mehr Technik gibt, sollen künftig auch Drohnen und Drohnenschwärme schlicht durch Gedanken gesteuert werden können. Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Robert Work bezeichnete die Integration der Mensch-Maschinen-Kollaboration in die Kriegsführung als "die neue militärische Währung dieses Zeitalters".

Die Rand Corporation, ein US-amerikanischer Thinktank, legte im Dezember 2020 einen Empfehlungsbericht für den künftigen militärischen Umgang mit BCI vor. Solange die Technologien in Entwicklung seien, müsse bereits eine Ethikdiskussion um deren Einsatz, mögliche gesellschaftliche Auswirkungen sowie nötige politische und gesetzliche Reglements stattfinden. Die Rahmenbedingungen müssen klar sein, bevor der Geist aus der Flasche respektive dem Labor ist, so die Conclusio.

Wem es nun kalt über den Rücken läuft, sei beruhigt. Zwischen großen Ideen und deren Umsetzung liegen in der BCI-Forschung Dekaden aufwendiger Arbeit. Für die erträumten militärischen Anwendungen sind zudem Innovationen in etlichen Disziplinen – von den Neurowissenschaften bis zur Materialtechnik – notwendig.

Erst begreifen, dann greifen

Seit der Wissenschafter Jacques Vidal den Begriff Brain-Computer-Interface 1973 erstmals nannte, wurde dennoch Erstaunliches verwirklicht. Der Großteil der heute weitgediehenen BCI-Technologien zielt darauf ab, das Leben schwer beeinträchtigter Menschen zu erleichtern. Über ein BCI können etwa Geräte wie Rollstühle oder Neuroprothesen durch Gedanken gesteuert werden.

Die Aktivierung im motorischen Cortex verändert die elektrischen Hirnaktivitäten und hinterlässt spezifische Muster im EEG.
Foto: Getty Images / iStock / Maryna Ievdokimova

Am Institut für Neurotechnologie der TU Graz stehen Menschen mit hoher Querschnittlähmung im Zentrum der Forschungsbemühungen. "Wir wollen den Betroffenen ein Stück Bewegungsfreiheit zurückgeben und damit auch die Selbstständigkeit und die Lebensqualität steigern", sagt Institutsleiter Gernot Müller-Putz, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit der Erforschung von Gehirn-Computer-Schnittstellen und deren Einsatz beschäftigt. Durch das von ihm mitentwickelte Grazer Brain-Computer-Interface konnten Betroffene bereits einfache Bewegungen mit der Hand ausführen.

Für solche Erfolge muss die Wissenschaft oft ungeahnte Hürden überwinden, schildert Müller-Putz. Bereits die Suche nach passenden Studienteilnehmern für Tests oder Probeläufe sei herausfordernd. Im Rahmen mancher Forschungsprojekte fuhr Müller-Putz mit Kollegen durch ganz Österreich und halb Deutschland, um neue Entwicklungen mit der richtigen Zielgruppe zu erproben. Wichtig sei dabei immer, keine falschen Hoffnungen zu wecken und realistische Ziele zu kommunizieren. Noch funktionieren viele Anwendungen – etwa jene von Neuroprothesen – lediglich unter kontrollierten Laborbedingungen.

Neuroprothesen für Querschnittgelähmte

Dennoch geben schon Testläufe Hoffnung, schildert Müller-Putz: "Die Menschen wissen, dass Hilfe in Entwicklung ist, und auch wenn die Technik erst in zehn Jahren ausgereift sein wird, fühlen sie sich als Teil der Lösung." Durch die Forschungen konnten querschnittgelähmte Menschen mithilfe von Neuroprothesen oft nach Jahren erstmals ihre Hand wieder drehen, sie öffnen und schließen.

Länger wird die Liste der Errungenschaften, wenn man passive Gehirn-Computer-Schnittstellen einbezieht. "Der technologische Unterbau ist sehr ähnlich, es fließen BCI-Methoden ein, aber Geräte werden nicht bewusst gesteuert", erklärt David Steyrl, der 2016 das österreichische Cybathlon-Team der TU Graz mitbegründete.

Spielfiguren mit der Kraft der Gedanken über den Schirm bewegen – beim Cybathlon wird so gezockt.
Foto: TU Graz

Bei diesem Wettbewerb treten unter anderem stark gelähmte Menschen in einem virtuellen Rennen gegeneinander an, bei dem die Spielfiguren nur durch Gedankenkraft über den Bildschirm bewegt werden. Steyrl, der heute an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien arbeitet, gibt ein Exempel für ein passives BCI. "Wenn ich mit einem Lernprogramm arbeite und die Aufgaben zu schwierig werden, verursacht das Stress. Ein BCI kann das erkennen und die Komplexität der Übungsbeispiele anpassen."

Decodierung des Gehirns

Der Grundstein für BCI-Technologien wurde vor beinahe 100 Jahren mit dem Elektroenzephalogramm (EEG) gelegt, das 1924 erstmals menschliche Denkprozesse sichtbar machte. Die Funktionsweise eines BCI beruht darauf, dass die Hirnaktivität die rein gedankliche Vorstellung einer Handlung widerspiegelt, etwa die Vorstellung, eine Hand oder einen Fuß zu bewegen.

Die Aktivierung im motorischen Cortex verändert die elektrischen Hirnaktivitäten und hinterlässt spezifische Muster im EEG, die von einem BCI erkannt und in technische Steuersignale umgewandelt werden. Doch bei 86 Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn ist es kein Leichtes, alle Muster zu identifizieren.

Im European-Research-Council-Projekt Feel Your Reach versuchen Müller-Putz und sein Team derzeit, die Steuerung des gesamten Arms zu decodieren. Dabei kommt ein Roboterarm zum Einsatz, der als Ersatz der gelähmten Extremitäten gedachte in reale Bewegungen umsetzen soll. "Momentan ist es noch zu schwierig, alle Bewegungen des Arms mithilfe einer Neuroprothese zu realisieren, außerdem ermüdet die Muskulatur von Betroffenen oft sehr rasch", sagt Müller-Putz.

Zerebraler Handymast

Erfolge konnten die Wissenschafter bereits verbuchen, einige wegweisende Erkenntnisse wurden erst kürzlich publiziert. So ist es gelungen, das Muster einer zielgerichteten Bewegung – etwa der Griff nach einem Glas – von bloßem Gestikulieren zu unterscheiden. "Derartige Unterschiede müssen wir eindeutig erkennen, und dazu braucht es ausgefeilte Messmethoden", sagt der Forscher, der für die Signalübertragung auf nichtinvasive Methoden wie die mit Sensoren gespickte EEG-Haube setzt.

"Damit kann ich enorm viel machen, mich viel natürlich und frei im Raum bewegen, springen oder auf dem Laufband gehen", nennt er einen Vorteil. Auch im Kernspintomografen ließen sich Hirnaktivitäten überwachen, allerdings mit Einschränkungen. "In dieser Röhre ist es eng und für manche unangenehm, ich kann mich nicht bewegen und sehe nur diese künstliche Umgebung", schildert er Einflüsse, die Messungen beeinträchtigen oder diese in ihrer Aussagekraft einschränken können.

Der Grundstein für BCI-Technologien wurde vor beinahe 100 Jahren mit dem Elektroenzephalogramm (EEG) gelegt. Mittlerweile gibt es auch drahtlose Verbindungen.
Foto: Getty Images / iStock / romaset

Genauigkeit und Invasivität gehen bei BCI-Methoden eng miteinander einher, da die Schädeldecke die zu messenden Signale dämpft. Je näher eine Elektrode am Gehirn liegt, desto stärker ist hingegen das an den Computer übertragene Signal – wie bei einem zerebralen Handymast.

Bei invasiven Methoden werden Sensoren operativ ins Gehirn implantiert und auf bestimmte Gehirnareale ausgerichtet. Derzeit in Entwicklung befindliche Implantate zielen auf bis zu eine Million Neuronen gleichzeitig ab, sind dabei jedoch nur einen Zehntelmillimeter groß. Invasive Methoden bergen jedoch hohe Risiken, da schon kleine Entzündungen oder Verletzungen des Denkorgans massive Auswirkungen haben können. Das führt bei vielen Fachleuten zu ethischen Bedenken, vor allem wenn gesunde Menschen invasive BCIs benutzen wollen.

Utopien und Hoffnungen

Für einen wirklichen Durchbruch von BCI-Anwendungen für die breite Masse braucht es letztlich Elektrodensysteme, die nicht implantiert werden müssen und die etwa wie eine Baseballkappe aufgesetzt werden können. Noch müssen EEG-Hauben aufwendig angelegt und mit einem leitenden Gel präpariert werden, was rund eine halbe Stunde dauert. Außerdem würde wohl niemand mit dieser Haube und dem Klebezeug drauf in den Park gehen, mutmaßt Müller-Putz. "Wir testen verschiedene Systeme, es fehlt immer noch ein bisschen, damit die Qualität der Signale passt, aber das wird kommen", ist er überzeugt.

Wäre der Sprung zu Praktikabilität und einem gewissen optischen Chic geschafft, ginge die Entwicklung alltäglicher Anwendungen wohl rasch vonstatten. BCI-Technologien könnten uns dann tatsächlich stetig begleiten. Fährt man etwa mit dem Auto und sieht eine rote Ampel, würde der ausgelöste neuronale Prozess – Rot ist gleich anhalten, ergo auf die Bremse treten – vom System erkannt und das Fahrzeug automatisch abgebremst.

Seit Elon Musk für sein Unternehmen Neuralink das gehirngechipte Schwein Gertrude präsentierte, kursieren in sozialen Medien Videos, in denen quasi die Matrix versprochen wird. Die Neuralink-Technologie soll das Hirn mit dem Internet verknüpfen, wo man sich etwa eine Sprache ins Gehirn laden könnte, so die Vision.

Auch an implantierbaren Chips wird gearbeitet. Erste Erfolge konnten bereits erzielt werden.
Foto: UC Berkeley / Ryan Neely

Bevor man in Euphorie verfalle, müsse man sich die derzeitige Studienlage bewusst machen, empfiehlt Steyrl: "Es ist immer mit der gebotenen Skepsis zu betrachten, ob Ideen tatsächlich anwendbar sind oder Utopien bleiben, und das gilt auch für BCI-Systeme." Wie Metaanalysen zeigen, funktionieren BCI-Anwendungen bei einem Teil der Probanden nicht zufriedenstellend, wobei die Ursachen vielschichtig und teilweise unklar sind.

Wissen als Nebenprodukt

So wird es um die Ankündigungen milliardenschwerer Konzerne oft schnell wieder ruhig. "Viele haben einfach zu futuristische Vorstellungen", meint Müller-Putz dazu. Einen Vorteil haben manch private Unternehmen freilich aufgrund ihrer schieren Finanzkraft, auf universitärer Ebene fehlen häufig die Geldmittel. "Das Thema BCI fasziniert die Menschen zwar und bekommt viel Aufmerksamkeit, aber in der Finanzierung schlägt sich das leider nicht nieder", so Müller-Putz. Das menschliche Gehirn zu entschlüsseln sei dennoch bedeutend komplizierter, als eine Rakete starten und unversehrt wieder landen zu lassen.

Doch auch wenn Träume platzen oder Forschungsansätze ins Leere führen, entsteht als Nebenprodukt konstant mehr Wissen über die Funktionsweise des Gehirns. Vieles kam auch für Müller-Putz überraschend, zu Beginn seiner Forschungen 1998 dachte niemand, dass sich Einzelhandbewegungen so gut unterscheiden lassen. "Mit dem damaligen Wissenstand war man zu respektvoll dem rauschenden Signal des EEGs gegenüber", meint er heute. "Es geht vermutlich noch mehr. Und wir werden das jetzt ausreizen." (Marlene Erhart, 26.1.2021)