Ekaterina Kotrikadze vom unabhängigen Sender Dozhd TV fragt sich im Gastkommentar, was in Russland noch passieren muss, um öffentlichen Unmut zu schüren.

Wieder in Haft: Alexej Nawalny.
Foto: Imago Images / Itar-Tass / Sergei Bobylev

Alexej Nawalny ist im Begriff, den bequemsten Monat Russlands zu stören. Wie bereits zu Sowjetzeiten erstrecken sich die Neujahrsferien bis weit in den Jänner hinein. In dieser Zeit können die Russen trinken, Orangen essen und sich nostalgische Romantikkomödien aus den 1970ern anschauen. Die Politik macht dabei normalerweise Pause.

Dass dieser Jänner anders werden könnte, deutete sich bereits Ende 2020 an. Wir Russen erfuhren, dass Nawalny, der wichtigste Oppositionsführer des Landes, Ziel eines Mordanschlags wurde, der fast sicher im Auftrag des Kreml ausgeführt wurde. Und anstatt uns zu schützen, war der russische Geheimdienst FSB, der Nachfolger des KGB, mit dem Versuch beschäftigt, Regimegegner auszuschalten.

Eine Untersuchung durch Journalisten von Bellingcat, "The Insider" und CNN ergab ein klares Bild, wie der Kreml Nawalny auf seiner Reise in die sibirische Stadt Tomsk im August mit dem Nervengift Nowitschok vergiften ließ. Dabei hat er Glück gehabt, dass die Mordfähigkeiten des FSB mit der Zeit nachgelassen haben. Die Aktion schlug fehl, und Nawalny führt nun – manchmal auf fast komödiantische Weise – seine Angreifer in der Öffentlichkeit vor. Einer von ihnen gab sogar Details des Anschlags am Telefon preis, da er überzeugt war, er spreche mit jemandem im "System". Aufgezeichnet wurde der Anruf durch Nawalny selbst.

Was noch?

Wenn das nicht reicht, um öffentlichen Unmut zu schüren, was soll dann noch passieren?

Zwar hat Nawalnys furchtloser Versuch, die Mächtigen zur Verantwortung zu ziehen, ihm den Respekt Tausender oder gar Millionen von Menschen eingebracht. Doch in einer aktuellen Umfrage gaben lediglich 61 Prozent der Russen an, über Nawalnys Vergiftung "etwas gehört" zu haben, und nur 17 Prozent sagten, sie hätten die Geschichte intensiv verfolgt. Schlimmer noch: 30 Prozent glaubten, alles sei inszeniert gewesen, und es habe gar keine Vergiftung gegeben. Und weitere 19 Prozent waren sich einig, es habe sich um "eine Provokation westlicher Geheimdienste" gehandelt. Lediglich 15 Prozent erkannten die Aktion "als Versuch der Behörden, einen politischen Gegner auszuschalten".

Diese Ergebnisse zeigen zwei Dinge: erstens, dass ein großer Teil der Russen immer noch Staatsfernsehen schaut und daran glaubt, obwohl immer mehr auch alternative Meinungen und Nachrichtenquellen wie Youtube suchen. Zweitens, und das beunruhigt mich am meisten: Vielen Russen ist es einfach egal. Etwa 44 Prozent haben von diesem abscheulichen Verbrechen gehört, aber kümmern sich nicht genug darum, um mehr darüber erfahren zu wollen – oder sie haben Angst und verdrängen deshalb die Taten ihrer Politiker.

Kaum offene Kritik

Aus ähnlichen Gründen unterstützen die meisten Russen auch keine Massendemonstrationen. Im Dezember, nach den Ermittlungen über Nawalnys Vergiftung, übten nur wenige Aktivisten offene Kritik. Der Filmregisseur Vitaly Mansky beispielsweise stellte sich mit einer Unterhose vor das FSB-Gebäude, um daran zu erinnern, dass dies das Kleidungsstück gewesen sein könnte, mit dem das Nowitschok verabreicht wurde. Manskys treffende Aktion wurde vielleicht von anderen Kreativen bemerkt, löste aber keine größere Protestbewegung aus.

Natürlich bietet der russische Winter keine idealen Bedingungen dafür, auf die Straße zu gehen. Und doch haben Anfang der 2010er-Jahre hunderttausende Russen den Frost ertragen, um gegen Wladimir Putins Rückkehr ins Präsidentenamt zu protestieren, das er nach seiner kurzen Zeit als Premierminister wieder einnahm. Außerdem könnten die Russen ihren Widerstand gegen die Taten des Kreml heute online und auf viele andere Arten ausdrücken. Sie könnten eine objektive, unabhängige Untersuchung fordern und die Sache in den sozialen Netzwerken diskutieren.

Angst vor Verrat

Da Putin Präsident ist, sind ihm die Details des Mordversuchs sicherlich bekannt. Er weiß, dass der US-Geheimdienst nichts damit zu tun hatte, und trotzdem behauptete er, Nawalny werde von "amerikanischen Sonderdiensten" unterstützt. Er gibt zwar zu, dass Nawalny unter Beobachtung stand, weist aber darauf hin, dies sei üblich. Aber selbst wenn die US-Amerikaner tatsächlich Informationen an Bellingcat übergeben haben, stellt sich immer noch die Frage, die auch Raskolnikow, einem Protagonisten in Fjodor Dostojewskis "Schuld und Sühne", gestellt wurde: Wer hat es denn dann getan? Und darauf gibt der Kreml keine Antwort.

Zu Putins größten Ängsten gehört, dass ihn jemand aus seinem unmittelbaren Kreis verraten und die Tür für eine "Farbrevolution" öffnen könnte, wie wir sie Anfang der 2000er in Georgien und der Ukraine gesehen haben. Er hat wiederholt Massenproteste in postsowjetischen Staaten als "illegale Putsche" bezeichnet, die vom Westen arrangiert worden seien. Obwohl er Nawalny in der Öffentlichkeit niemals namentlich erwähnt, vergleicht er ihn regelmäßig mit Micheil Saakaschwili, einem der Anführer der georgischen Rosenrevolution von 2003.

Eine "Farbrevolution"?

Ist eine solche Revolution in Russland angesichts dessen, dass sogar ein offiziell angeordneter Mordanschlag nicht reicht, um nationale Empörung auszulösen, überhaupt möglich? Auch als Putin letzten Sommer die Verfassung änderte, um seine Regentschaft bis mindestens 2036 verlängern zu können, haben sich nur wenige Russen beschwert.

Russlands – sowohl sowjetische als auch zaristische – Geschichte hat den heutigen Bürgern beigebracht, dass eine Trennung vom jeweils regierenden Staatsführer erst nach seinem Tod möglich ist. Unter Putin neigen heute viele Russen, insbesondere jene der älteren Generation, zu einer Verbindung imperialer Gelüste mit der Angst vor ausländischen (und ewigen) Feinden. Das Leben unter diesem Staatschef mag nicht ideal sein, aber wie Nawalny und seine Unterstützer erkennen mussten, ist es auch noch nicht schlimm genug. (Ekaterina Kotrikadze, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 19.1.2021)