Sogenannte Überlinge, also etwa überschüssige Impfdosen von Impfterminen in Heimen, landeten auch in den Oberarmen von externen Personen.

Illustration: Fatih Aydogdu

Hätte er sich nicht impfen lassen, sagt Erich Wahl (SPÖ), der Bürgermeister des oberösterreichischen St. Georgen an der Gusen, dann wäre es auch nicht recht gewesen. Immerhin sei er als Bürgermeister der Chef des örtlichen Altenheims, da sei es eine "betriebliche Notwendigkeit", dass er vor Ort ist. Und nun eben geimpft.

Zahlreiche Fälle, die kleinere und größere Ähnlichkeiten mit der Causa Wahl aufweisen, wurden in den letzten Tagen publik. Die Gemeinsamkeit: Personen, die eigentlich nicht in Alten- und Pflegeheimen wohnen oder dort arbeiten, bekamen Impfdosen – überschüssige oder gar eigens dafür bestellte. Es hagelte Kritik am Vorgehen, konkrete Konsequenzen hingegen sind noch unklar.

Wohin mit Überlingen?

Hinter dem Problem steht die Frage: Wohin mit jenen Impfdosen in Heimen, für die es keinen Abnehmer gibt? Dass es überhaupt überflüssige Dosen gibt, mag absurd klingen, in einer Zeit, in der Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) davon spricht, dass ihm der Geduldsfaden reiße, wenn nicht schneller Impfdosen ins Land kommen würden. Dennoch, so bestätigen mehrere zuständige Behörden dem STANDARD, gab es in zahlreichen Heimen "Überlinge", also mehr Impfdosen als impfwillige Bewohner oder Mitarbeiter. Und die dürfen, auch das ist Vorgabe des Bundes, auf keinen Fall verfallen. So wurden externe Personen zu Überimpflingen.

Das kann, so heißt es aus dem Gesundheitsministerium, etwa sein, weil sich eine Person, die auf der Impfliste für einen Termin stand, umentschieden hat, oder auch weil jemand zum Impftermin krank wurde. Das konnte in der Vergangenheit auch daran liegen, dass zu Beginn noch nicht klar war, dass aus einer Phiole Pfizer-Impfstoff sechs statt wie ursprünglich gedacht fünf Dosen entnommen werden können, heißt es aus betroffenen Bundesländern. Die Bundesbeschaffung GmbH, die den E-Shop betreibt, über den die Dosen bestellt werden, schreibt dem STANDARD jedoch: "Diese Information ist für die berechtigten Impfstellen auch im E-Shop ersichtlich."

Und das kann daran liegen, dass die Heime von vornherein zu viel Impfstoff bestellt hatten. Laut Gesundheitsministerium haben die einzelnen Heime die Möglichkeit, so viele Dosen zu bestellen, wie es der Zahl der Bewohnerschaft und des Personals entspricht. Lassen die sich nicht alle impfen und wird dennoch das volle Kontingent ausgeschöpft, bleiben Dosen für Externe. Im Ministerium betont man aber: Auch bei "Notfalllisten" für überschüssige Dosen habe man sich an die Prioritätenreihung des Bundes und des Impfgremiums zu halten.

100 Impfdosen zu viel in Wiener Heim

In das Muster "zu viel bestellt, zu wenige gekommen" passt etwa der Fall des Wiener Pflegeheims Baumgarten, von dem der STANDARD erfuhr. Auch dort wurden vergangene Woche gesunde Menschen geimpft, die in der Einrichtung weder arbeiten noch leben. Das sorgte für böses Blut. Schließlich gibt es im Wiener Gesundheitsbereich nach wie vor Bedienstete, die direkt mit Corona-Patienten in Berührung kommen, aber noch keine Immunisierung bekommen haben.

Offenbar hatte sich das Heim grob verkalkuliert. Die Ergiebigkeit der Impfstoff-Fläschchen sei unterschätzt worden, einige Anwärter hätten wegen Krankheit absagen müssen, heißt es auf Anfrage aus dem Wiener Gesundheitsverbund: Am Ende seien nach den planmäßigen Impfungen rund 100 Dosen übrig geblieben, die wegen der geringen Haltbarkeit rasch verbraucht werden mussten. Eilig habe das Heim die Impfung besonders gefährdeten Personen von außerhalb der Einrichtung angeboten, dann Angehörigen und Besuchern von Heimbewohnern und schließlich Angehörigen von Mitarbeitern, die zu den Risikogruppen zählen. Erst als dann immer noch nicht alle Dosen vergeben waren, seien einige wenige Angehörige zum Zug gekommen, die weder betagt noch chronisch krank sind.

Die Heimleitung in Baumgarten bedaure, dass Dosen auch an Menschen außerhalb der Risikogruppen gingen, richtet ein Sprecher des Gesundheitsverbund aus und verspricht eine Untersuchung, um daraus Konsequenzen zu ziehen. Darüber würden alle weiteren Impfstoff-Bestellungen der Pflegeeinrichtungen nochmals geprüft, damit ungewollter Überfluss nicht mehr vorkomme.

Feldkirchs Bürgermeister verteidigt sich

Auch in Vorarlberg gehen die Wogen hoch. Wie die "Vorarlberger Nachrichten" zunächst berichteten, hat sich der Feldkircher Bürgermeister Wolfgang Matt (ÖVP) am Wochenende bei einer Impfaktion in einem Seniorenheim in Feldkirch-Gisingen impfen lassen, obwohl dem offiziellen Impfplan gemäß Politiker noch nicht an der Reihe sind.

ORF

Der 65-jährige Matt verteidigte sich in der "ZiB 2" am Dienstagabend. Er sei der Letzte gewesen, der das Pflegeheim betreten habe. Und dann sei niemand mehr in der angemeldeten Gruppe vor ihm da gewesen. Danach wurden Leute aus einer Backup-Gruppe angerufen. Am Ende sei noch eine Dosis übrig geblieben. "Da habe ich gesagt: Na, die nehm ich gerne." Er schmeiße zu Hause auch kein hartes Brot weg.

Auf den Einwurf von Moderator Armin Wolf, dass laut Mitarbeitern im Heim noch genügend ältere, impfwillige Personen anwesend gewesen seien, sagte Matt, dass er eine andere Wahrnehmung gehabt habe. Andere ältere Personen seien auch nicht auf der Backup-Liste gestanden. "Und Leute in den letzten fünf Minuten zu mobilisieren war auch nicht möglich." An einen Rücktritt denkt er nicht: "Soll ich mich entschuldigen, dass ich die letzte Dosis genommen habe?"

Am Abend berichteten die "Vorarlberger Nachrichten" online, dass sich auch die Bürgermeisterin von Rankweil, Katharina Wöß-Krall, bereits hat impfen lassen. Die 44-Jährige teilte mit, dass sie am 13. Jänner bei der Impfaktion im Sozialzentrum Haus Klosterreben anwesend war, dabei seien einige Impfdosen übrig geblieben. "Aufgrund der beschränkten Haltbarkeit des Impfstoffs habe ich mich im besten Wissen und Gewissen zur Impfung bereiterklärt. Für mich war es sinnvoller, den Impfstoff aufzubrauchen, als ihn wegzuwerfen", sagte sie.

Rot-blaue Impfkoalition in Eberschwang

Besonders brisant ist in dem Zusammenhang ein Fall in Oberösterreich. In Eberschwang kamen bei der Impfaktion im Heim Bürgermeister Josef Bleckenwegner (SPÖ) und zwei Vizebürgermeister von der SPÖ und der FPÖ, aber auch drei Angehörige von Senioren sowie der Hausarzt und die Ordinationsmitarbeiter zum Zug. Die Heimaufsicht – sie liegt im Zuständigkeitsbereich der roten Landesrätin Birgit Gerstorfer – stellte nun fest: "Bereits bei der Listenerstellung (...) wurde nicht auf die Vorgaben der Priorisierung durch die Impfkoordination des Landes geachtet."

So seien bereits in der Listenerstellung Personen einbezogen worden, die nach der Prioritätenvorgabe noch nicht für die Impfung vorgesehen gewesen waren. "Dieses Vorgehen war weder mit dem Dienstgeber noch mit der Impfkoordination bzw. der Abteilung Soziales abgestimmt", heißt es in dem Bericht, der dem STANDARD vorliegt, weiter. Der Bürgermeister erklärte sein Verhalten zuvor mit einer Vorbildwirkung, die er haben wollte.

Staatsanwaltschaft prüft

Ein anderer Fall in Kärnten liegt nun bei der Staatsanwaltschaft. Nach zahlreichen "Gerüchten", wie ein Sprecher des Landes sagt – die drehen sich etwa um geimpfte Verwandte und Bekannte sowie um Kommunalpolitiker, aber auch um Spenden im Gegenzug für Impfdosen –, habe man eine Sachverhaltsdarstellung eingebracht. Einige Berichte, etwa einer, nach dem gleich 120 externe Personen "bewusst falsch" geimpft worden seien, hätten sich aber bereits als falsch herausgestellt. Die Staatsanwaltschaft Klagenfurt wird die angekündigte Anzeige prüfen, sagte ein Behördensprecher auf APA-Anfrage.

Fälle gibt es nun also zuhauf – das begann schon Anfang Jänner mit Berichten und darauf folgenden Rücktrittsforderungen rund um den Präsidenten der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Oskar Deutsch, und das erreichte einen vorläufigen Höhepunkt, als am Dienstag ein Bericht nach dem anderen aus Vorarlberg, Tirol, Kärnten, Ober-, Niederösterreich und Wien die Runde machte.

Kein Amtsmissbrauch

Die konkreten rechtlichen Konsequenzen für die wilde Impferei hängen nun von einigen Faktoren ab. Sind keine Gelder oder Spenden geflossen, so sagt der Strafrechtler Hubert Hinterhofer, dann stünde nicht einmal der Vorwurf des Amtsmissbrauchs im Raum, denn – sofern Impfdosen sonst übrig geblieben wären – dann fehle der Schädigungsvorsatz. "Wenn Spenden im Spiel sind, wird das interessanter, weil wir ein strenges Korruptionsstrafrecht haben", sagt Hinterhofer. Sind Heime einer Gebietskörperschaft betroffen, so könnten Vorteilsnehmer und Vorteilsgeber bestraft werden, das gelte nicht für private Heime.

Das Gesundheitsministerium sieht die "volle Verantwortung bei den Impfbeauftragten in den Heimen und in weiterer Folge bei den Impfkoordinatoren der Bundesländer", sagt ein Sprecher im Gespräch mit dem STANDARD, immerhin habe es "klare Vorgaben" gegeben, was die Impfung von Externen angehe. Die Aufgabe der Länder sei es nun, Regelverletzungen zu kontrollieren und zu sanktionieren.

Auch vom Vizepräsidenten der Österreichischen Ärztekammer Harald Mayer kam der Ruf nach Konsequenzen. "Hier zeigt sich eine Schieflage: Während in manchen Regionen Spitäler auf ihre Impfdosen warten, werden gleichzeitig in denselben Regionen andere geimpft, die in der Prioritätenliste weiter unten stehen", kritisierte er.

Der eingangs zitierte Bürgermeister Wahl ist sich auch in Anbetracht dessen keiner Schuld bewusst. Was würde denn das Personal denken, wenn der Chef sich nicht impfen lässt, fragt er sich. Und außerdem sei er ohnehin als allerletzter drangekommen: als alle Listen ausgeschöpft waren und immer noch Impfstoff übrig war. (Gerald John, Gabriele Scherndl, 19.1.2021)