Foto: Robert Newald
Foto: Robert Newald
Foto: Robert Newald

Christoph Wiederkehr, einziger pinker Stadtrat und Vizebürgermeister von Wien, hat im Rathaus das Büro der grünen Ex-Vizebürgermeisterin Birgit Hebein bezogen. Für die Umgestaltung war noch keine Zeit. Inhaltlich wird hier nun aber über Bildung statt über Verkehr gesprochen. Dass in puncto Schulöffnungen "alle paar Tage alles neu ist", kritisiert Wiederkehr am Krisenmanagement des Bundes.

STANDARD: Die Schüler bleiben mindestens bis nach den Semesterferien im Distance-Learning. Noch im Dezember haben Sie den Schul-Lockdown als "falsche Entscheidung" des Bundes bezeichnet. Hat sich Ihre Meinung geändert?

Wiederkehr: Zumindest die Volksschulen hätten den Präsenzunterricht aufnehmen können. Aber in dieser aktuellen Phase mit der zusätzlichen Unsicherheit von der Mutation des Virus muss man stetig neu evaluieren. Für mich ist es wichtig, dass die Schulen zuerst bei Öffnungsschritten drankommen. Es geht um Bildungschancen der Kinder und um eine irrsinnige Belastung der Eltern, die seit vielen Wochen Homeschooling und Homeoffice verbinden müssen.

"Wir hatten in den letzten drei Wochen fünf unterschiedliche Daten einer möglichen Schulöffnung."
Foto: Robert Newald

STANDARD: Ist nach den Semesterferien der richtige Zeitpunkt zur Öffnung?

Wiederkehr: Wir werden in den nächsten zwei Wochen genau verfolgen, wie sich die Fallzahlen in Wien entwickeln. Wenn diese stabil bleiben oder sinken, halte ich die Öffnung für durchführbar. Es ist nicht alles über Distance-Learning möglich. Kinder, die zu Hause nicht die entsprechende Förderung erhalten, bleiben auf der Strecke. Sie sind besonders betroffen.

STANDARD: Auch bei Neuinfektionszahlen wie derzeit sollen Schulen aufsperren können?

Wiederkehr: Bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von um die 100 wie aktuell halte ich eine Öffnung der Schulen für möglich – vor allem der Volksschulen. Das Ziel muss sein, alle Schulstufen schrittweise zu öffnen. Der aktuelle Plan ist eine generelle Öffnung der Schulen ab 8. Februar. Wichtig ist, dass es regelmäßige Testungen der Schüler und des pädagogischen Personals gibt. Damit haben wir schon diese Woche in Wien begonnen.

STANDARD: Wie soll der geplante Schichtbetrieb ab 8. Februar in Wien aussehen?

Wiederkehr: Das ist eine Herausforderung für Schulstandorte und Eltern. Vor allem für diejenigen, die jeden Tag Betreuung ihrer Kinder brauchen. Davon gibt es genug. Ich warte auf die Ansage der Bundesregierung und von Minister Heinz Faßmann. Es braucht einen klaren Plan, und den habe ich den vergangenen Wochen vermisst: Alle paar Tage ist alles neu. Die Verwirrung im Bildungssystem ist groß. Wir hatten in den letzten drei Wochen fünf unterschiedliche Daten einer möglichen Schulöffnung. Das ist ein inakzeptables Verwirrspiel. Hier braucht es mehr Ehrlichkeit.

STANDARD: Die Lehrergewerkschaft fordert die Begrenzung des Betreuungsangebots an Schulen. Auch die Bundes-SPÖ spricht sich dafür aus. Laut Gewerkschaft sollen trotz Lockdowns und Distance-Learnings teilweise bis zu 80 Prozent der Schüler in den Klassen sitzen. Ist das sinnvoll?

Wiederkehr: Nach unseren aktuellen Daten gehen im Durchschnitt 19 Prozent aller Wiener Schüler in die Schule. Wenn an einzelnen Standorten 80 Prozent in die Schule gehen, muss man sich das anschauen und hinterfragen, wie man Eltern unterstützen und Klassen ausdünnen kann. Der Weg kann aber nicht sein, Eltern zu verbieten, Kinder in die Betreuung zu schicken. Ich halte gar nichts davon, diese Möglichkeit nur für Eltern mit systemrelevanten Berufen zu beschränken. Jeder Elternteil, der es braucht, kann das Betreuungsangebot in Kindergärten und Schulen in Anspruch nehmen. Das ist garantiert und gesichert.

STANDARD: Wie wird in Wien sichergestellt, dass Kinder aus bildungsfernen Familien im Distance-Learning nicht zurückbleiben?

Wiederkehr: Das ist ein sehr gravierendes Problem. Es geht nicht nur um die Bildungschancen der Kinder, sie können auch ihre Freunde nicht treffen, haben kaum sozialen Austausch. Sie können nicht schwimmen lernen – oder in der Schule singen. Hier gibt es viel aufzuholen. Es muss nach der Pandemie einen besonderen Fokus auf Förderstunden, auch Sprachförderung geben. Im Sommer wird es mehr Angebote geben als sonst.

Für eine Verkürzung der Sommerferien tritt Christoph Wiederkehr nicht ein. Für rund zehntausend Schüler mit Förderbedarf soll es aber verpflichtende Förderprogramme geben.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Wie sehen diese aus?

Wiederkehr: Wir haben in Wien ein Sommerprogramm, das heuer stark ausgebaut wird. Einerseits fachliche Förderung in Deutsch oder Mathematik, aber gleichzeitig findet auch Bewegung oder künstlerische Betätigung statt. Viele Kinder, die zu Hause geblieben sind, bewegen sich viel zu wenig. Übergewicht bei Kindern ist ein massives Thema geworden. Das sind Begleiterscheinungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.

STANDARD: Braucht es für Kinder, die in mehreren Fächern Probleme haben, Nachdruck?

Wiederkehr: Für Schüler mit besonderem Förderbedarf kann ich mir ein verpflichtendes Förderprogramm vorstellen.

STANDARD: Welche Schüler sollen verpflichtend hingehen?

Wiederkehr: Das wissen die Lehrer vor Ort am besten. Sie müssen die Einschätzung geben. Ich stehe mit dem Bundesministerium über Förderprogramme in Kontakt. Lehrer können sich freiwillig melden, auch schon jetzt in den Semesterferien, um zu unterrichten. Dieser Mehrbedarf wird abgegolten. Wir werden auch an Lehramtsstudierende herantreten. Es gibt schon jetzt an den Semesterferien ein Programm des Bundes. Herausforderung für die Schulen ist, dass das sehr kurzfristig gekommen ist. Darüber hinaus gibt es eigene Programme, die wir für Wien forcieren, die stärker auf die Kombination von Lernen mit Spiel, Spaß und künstlerischer Erfahrung zusammenhängen.

STANDARD: Wie viele Wiener Schüler brauchen in Wien Förderung im Sommer?

Wiederkehr: Es gibt auf jeden Fall mehrere Tausend, eher zehntausend Schüler in Wien, die zusätzlichen Förderbedarf haben. Die Noten im Semesterzeugnis sind diesmal häufig Noten der Mitarbeit der Eltern. Mein Appell für die Semesterbenotung ist, das mit Augenmaß anzugehen und mit Milde zu benoten. Mir ist lieber, dass bei der Notenvergabe ein Auge zugedrückt wird und haufenweise Schüler das Jahr nicht wiederholen müssen.

STANDARD: Unterstützen Sie die Forderung nach schriftlichen Beurteilungen statt Ziffernnoten von eins bis fünf?

Wiederkehr: Vor allem in der Volksschule wäre eine schriftliche Beurteilung als Alternative andenkbar. Es gab bereits viele Schulversuche, das wurde von der Bundesregierung leider stark eingeschränkt. Ich halte es für eine gute Herangehensweise, angesichts der Pandemie wieder alternative Benotungsformen stärker zu forcieren. Generell kann man grundsätzliche Fragen im Bildungssystem diskutieren – es ist aber stark davon abhängig, ab wann wieder normaler Unterricht an Schulen stattfinden kann. Ich bin nicht sehr optimistisch, dass das rasch der Fall sein wird.

STANDARD: Welche dieser Grundsätze wollen Sie noch hinterfragen?

Wiederkehr: Etwa, was man in der Schule überhaupt lernt – angesichts dessen, welche Herausforderungen das Leben bringt. Medienkompetenz, wirtschaftliche Bildung, kritisches Denken und Demokratiekompetenz sind heute wichtiger geworden als reines Faktenwissen. In eine Entrümpelung und Neuaufstellung des Lehrplans zu gehen halte ich für sinnvoll. Ein anderer Punkt ist Digitalisierung. Auch wenn Corona einen Schub gebracht hat, braucht es eine digitale Aufholjagd.

STANDARD: Wann werden Wiener Lehrer gegen das Coronavirus geimpft?

Wiederkehr: Wenn wir genug Impfstoff haben. Wir bekommen viel zu langsam und zu wenig Impfstoff. Das ist ein echtes Impfversagen in Österreich – auch im Vergleich zu anderen Ländern. Die Bundesregierung erhält die Dosen zu langsam und verteilt sie auch zu langsam. Jeder Impfstoff, der in Wien ankommt, wird noch am selben Tag oder am Tag darauf verimpft.

Wiederkehr zu den Corona-Demos: "Es ist eine Kundgebung der eigenen Frustration, die auch im öffentlichen Raum möglich sein muss."
Foto: Robert Newald

STANDARD: Wien plant 200 zusätzliche Sprachförderkräfte einzusetzen. Wie viele wurden bereits eingestellt?

Wiederkehr: Noch gar keine. Im Bereich der Kindergärten werden wir die Anzahl der Sprachförderkräfte von 300 auf 500 erhöhen. Das kann man nicht von einem Tag auf den anderen machen. Wir werden schon vor dem Sommer beginnen, das auszubauen und schrittweise zu erhöhen.

STANDARD: Bis wann sollen die 200 zusätzlichen Kräfte eingestellt sein? Bis Ende des Jahres?

Wiederkehr: Wenn wir sie finden, dann gerne. Ich glaube, dass das aber nur schrittweise geht. Im Bereich der administrativen Unterstützung an den Schulen wird es bestimmt schneller gehen. Hier gibt es entsprechendes Personal auch durch die hohe Arbeitslosigkeit. Schulen müssen mehr unterstützt werden, damit sich Lehrer auf das Unterrichten konzentrieren können.

STANDARD: Was sagen Sie als Vizebürgermeister zu den Großdemos der Corona-Gegner, die vergangenes Wochenende über den Ring gezogen sind?

Wiederkehr: Ich verstehe, dass Menschen angefressen sind und Sorge um ihre Existenz haben. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist wenn Bestimmungen nicht eingehalten werden. Es wurden von vielen keine Masken getragen und der Abstand nicht eingehalten. Die Polizei ist in einer schwierigen Situation und muss abwägen. Ich halte die Ahndung mit Strafmandaten besser, als gleich die ganze Demo aufzulösen. Es ist eine Kundgebung der eigenen Frustration, die auch im öffentlichen Raum möglich sein muss. (Oona Kroisleitner, David Krutzler, 20.1.2021)