Alexei Nawalny ist trotz der Androhung einer Verhaftung nach Russland zurückgekehrt, weil er damit das Kalkül und die Erwartungen Putins durchkreuzen wollte. Nach dem missglückten Attentat hoffte man in der russischen Führung, Nawalny würde im Ausland bleiben und aus Sorge um sein Leben nicht mehr nach Russland zurückkommen. Für Nawalny aber ist klar, dass er ein bedeutender Faktor der russischen Politik nur sein kann, wenn er im Land arbeitet. Es gibt einige Putinkritiker, die das Exil gewählt haben oder ins Exil gezwungen wurden; sie alle sind für den Diskurs der russischen Opposition irrelevant. Hätte Nawalny das Exil angenommen, wäre er in Russland vergessen worden.

Der Umstand, dass Nawalny zurückkehrte, ist Zeugnis für seinen Mut und seine Unerschrockenheit. Es ist auch Ausdruck des Sendungsbewusstseins, das Nawalny in sich trägt: Er denkt, er habe die historische Aufgabe in Russland einen Regimewechsel herbeizuführen, mit ihm als neuen Machthaber.

Nawalny im Flieger nach Moskau.
Foto: Kirill KUDRYAVTSEV / AFP

Die Sicht auf Nawalny in Russland und international

Das Attentat hat Nawalny international bekannter gemacht und die Solidarität mit ihm wachsen lassen. Das hat sich die russische Führung selbst zuzuschreiben. Nawalnys Schicksal wurde auch zu einem Streitpunkt in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Putin ist das aber wohl gleichgültig, da er ohnehin keine Besserung der Beziehungen zur EU und den USA erwartet. Je mehr westliche Politiker die Freilassung von Nawalny fordern, umso leichter kann Putin ihn als nützlichen Idioten oder als 5. Kolonne des Westens bezeichnen.

Das Attentat hat Nawalny in Russland ebenso bekannter gemacht und die Zustimmung zu seiner Tätigkeit wachsen lassen. Immerhin noch 18 Prozent der Bevölkerung haben von Nawalny noch nie gehört. Nawalny polarisiert auch die russische Bevölkerung. Zwar ist die Zahl der Russen, die Nawalny mögen, gestiegen, aber der Wert liegt noch deutlich unter dem Wert derjenigen, die seine Arbeit ablehnen. Es ist auch bezeichnend, dass nach einer Umfrage des Levada-Instituts im Dezember nur 15 Prozent der Befragten daran glauben, dass Nawalny durch den russischen Staat vergiftet wurde. Etwa 50 Prozent glauben daran, dass Nawalny die „Vergiftung“ inszeniert habe oder dass westliche Geheimdienste dahintersteckten. Das zeigt deutlich, wie stark die meinungsbildende Kraft staatlicher und befreundeter Fernsehsender und andere Medien noch immer ist.

Haftstrafe oder nicht?

Wird Nawalny nach dem Gerichtsprozess nun lange inhaftiert werden? Die russische Führung ist sich diesbezüglich nicht einig. Die Siloviki, also die Vertreter von Militär und Geheimdienst, sind der Ansicht, dass eine lange Haftstrafe, in der Nawalny nach außen völlig abgeschottet wird, seinen Nimbus verblassen lassen könnte. Der Sicherheitsapparat ist entschlossen, Navalnij als Bedrohung auszuschalten - mit welchen Mitteln auch immer. Die Liberalen hingegen fürchten bei einer langen Haftstrafe die Radikalisierung der Opposition in Russland, eine Belastung für die Legitimität der gegenwärtigen Führungen und neue Sanktionen des politischen Westens. Sie befürworten, zur Strategie vor dem Attentat zurückzukehren: Nawalny zu marginalisieren, ihn zu diskreditieren und ihn in der Furcht vor einer Haftstrafe zu belassen. Vielleicht wäre das auch wirklich möglich, aber das Risiko dabei ist, dass Nawalny mit seiner größeren Akzeptanz in der russischen Bevölkerung zu einem gefährlicheren Gegner der russischen Führung werden könnte. Die Entscheidung darüber wird wohl auch davon abhängen, ob es zu Massenprotesten gegen die Inhaftierung Nawalnys kommen oder der Protest nur kleine Menschenmengen mobilisieren wird.

Der Umstand, dass Navalnij mit der Veröffentlichung des Videos über “Putins Palast” gleichsam die nukleare Option gezündet hat – ein direkter Angriff auf Putin -, macht es aber nicht wahrscheinlicher, dass Navalnij nur kurz in Haft bleiben wird. (Gerhard Mangott, 21.1.2021)

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