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Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu ist am Mittwochabend zu einer zweitägigen Reise nach Brüssel aufgebrochen, die zu einem Beginn eines Neuanfangs zwischen der Türkei und der EU werden soll. Vorbereitet wurde Çavuşoğlus Trip mit einer Charmeoffensive, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor einigen Tagen in Richtung Europa startete. In einer Rede vor den versammelten EU-Botschaftern in Ankara sagte er: "Wir sind bereit für eine neue positive Agenda mit der EU und wollen unsere Beziehungen so erneuern, dass daraus eine langfristige Perspektive wird. Wir erwarten von unseren europäischen Partnern denselben positiven Willen."

Quasi als Vorleistung hatte Erdoğan angekündigt, dass am 25. Jänner in Istanbul nach den Spannungen im letzten Jahr nun endlich Verhandlungen über die Ausbeutung des östlichen Mittelmeeres mit Griechenland beginnen werden.

Zwar ist bereits absehbar, dass die Gespräche um die exklusiven Wirtschaftszonen unter dem Meer schwierig und langwierig werden, doch für die EU ist entscheidend, dass sie überhaupt beginnen und die aggressiven militärischen Provokationen im östlichen Mittelmeer damit zumindest vorläufig beendet werden.

EU/Türkei-Gipfel angedacht

Am Donnerstag und auch noch am Freitag will Çavuşoğlu in Brüssel nun die Chancen für einen EU/Türkei-Gipfel ausloten und einen Besuch der Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am 26. Jänner in Ankara vorbereiten. Erdoğan hat bereits angekündigt, er wolle von Leyen und Michel zeigen, wie die Türkei Geld aus dem Flüchtlingspakt verwendet hat. In Nordsyrien in der Provinz Idlib haben türkische Bauunternehmen in den letzten Monat quasi eine neue Stadt mit rund 50.000 festen Häusern hochgezogen, in denen rund 300.000 syrische Binnenflüchtlinge untergebracht werden sollen, um zu verhindern, dass sie in die Türkei und womöglich weiter in die EU flüchten.

Dafür erwartet Erdoğan neues Geld für die Versorgung der Flüchtlinge, vor allem aber, dass die EU endlich "ihre Versprechen erfüllt", wie er sagte, und die Verhandlungen über die Erweiterung der Zollunion mit der Türkei beginnt und visafreies Reisen für türkische Bürger in die EU erlaubt.

Erweiterung der Zollunion

Vor allem die Erweiterung der Zollunion ist für Erdoğan wichtig. Im November hatte er angesichts der dramatischen Wirtschafts- und Finanzkrise die Notbremse gezogen, seinen Schwiegersohn als obersten Finanz- und Wirtschaftslenker gefeuert und durch zwei angesehene Wirtschaftspolitiker ersetzt, die ihm klargemacht haben, dass eine Wiederannäherung an die EU und die USA zwingend notwendig ist, um das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps zu bewahren.

Die Türkei braucht dringend wieder Investoren aus dem Westen und muss unbedingt die angedrohten Sanktionen der EU und möglichst auch der USA abwehren. Dafür ist Erdoğan anscheinend bereit, seinen aggressiven Kurs im östlichen Mittelmeer zu beenden und wieder zu akzeptierten diplomatischen Formen zurückzukehren. Angebote zu einer Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel gehören genauso dazu wie eine Deeskalationspolitik gegenüber Frankreich.

Einmischung verbeten

Der durch die Not diktierte neue außenpolitische Schmusekurs korrespondiert allerdings nicht mit einer Abmilderung der Repression im Inneren. Hier will sich Erdoğan von der EU nach wie vor nicht reinreden lassen, im Gegenteil, zwei wichtige Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, in denen die Freilassung des bekannten Unternehmers und Kulturmäzens Osman Kavala und des kurdischen Ex-Parteiführers Selahattin Demirtaş gefordert werden, weist er brüsk als unzulässige Einmischung zurück. Statt die Urteile umzusetzen, wozu die Türkei verpflichtet ist, und den ehemaligen Parteichef der kurdisch-linken HDP wieder freizulassen, wird in der Regierung derzeit offen diskutiert, die HDP ganz zu verbieten. Auch die Meinungsfreiheit soll noch einmal eingeschränkt werden. Erdoğan will Facebook und Twitter aus dem Land drängen und damit die letzten Refugien eines freien Meinungs- und Informationsaustauschs schließen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 20.1.2021)