E-Mail vor dem Kindergarten, dann ins Büro und auf dem Heimweg Telekonferenz – wird die neue Arbeitswelt zur Bürde?

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Wien/Strassburg – Seit die Pandemie begonnen hat, arbeitet jeder dritte Europäer von zu Hause aus. Über Nacht verschmolzen für viele Menschen zwei Lebensbereiche, die zu trennen mentale Anstrengung erfordert. Neben gewonnener Flexibilität kommen Probleme auf: Multitasking, das ständige Erreichbarsein und die fliegenden Wechsel zwischen Kinderbetreuung, Wäscheaufhängen und dem Beantworten von E-Mails sind psychisch belastend, wie zahlreiche Studien belegen (Verlinkungen unten). Eine Gruppe von EU-Politikern will nun Arbeitnehmer besser vor den Ansprüchen ihrer Vorgesetzten sowie sich selbst schützen. Am Donnerstag stimmt das EU-Parlament über die Verankerung eines Rechts auf Nichterreichbarkeit ab.

"Digitalisierung hat viele Fortschritte in der Arbeitswelt gebracht, aber sie hat auch negative Auswirkungen auf unser Leben", sagt der sozialdemokratische EU-Abgeordnete Alex Agius Saliba aus Malta, auf dessen Initiative die Abstimmung zustande kam. Umfragen hätten gezeigt, dass fünf Prozent der Angestellten, die im Büro arbeiten, auch in ihrer Freizeit Berufliches erledigen. Unter Menschen im Homeoffice und anderen Teleworkern gaben über ein Drittel der Befragten an, auch einmal in ihrer Freizeit zu arbeiten.

Vom Handy abkoppeln

Ein Recht für alle Arbeitnehmer in der EU auf Nichterreichbarkeit soll die Situation verbessern. Die Idee dahinter ist, es jedem Mitarbeiter nach Dienstschluss zu ermöglichen – egal ob zu Hause oder auf dem Weg aus dem Büro –, dass er Arbeitshandy, E-Mail-Account und Co abdrehen kann, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.

Das ist prinzipiell nicht neu, gelten doch für Arbeitnehmer bestimmte Ruhezeiten, die theoretisch unterbrochen würden, wenn um Mitternacht noch eine E-Mail geschrieben wird, gibt Arbeitsrechtler Martin Gruber-Risak zu bedenken.

Theorie und Praxis klaffen aber oft auseinander. Für die Aufzeichnung der Arbeitszeiten sind die Mitarbeiter vielfach selbst verantwortlich. Es stellt sich die Frage: Trägt wirklich jemand die zwanzig Minuten, in denen man vor dem Schlafengehen noch schnell etwas erledigt, getreu ins Zeiterfassungssystem ein? Ein Verbot, die Ruhezeiten zu brechen, würde selten greifen, lauten die Bedenken.

Sozialpartner in der Pflicht

Gibt es ein praxistaugliches Modell? Besser funktionierende Ansätze sieht Gruber-Risak in einigen EU-Ländern, die bereits ein Recht auf Nichterreichbarkeit gesondert von den Ruhezeiten implementiert haben. In Frankreich etwa sind die Sozialpartner verpflichtet, in Betrieben ab einer bestimmten Größe konkrete Maßnahmen zu implementieren, dass Mitarbeiter außerhalb ihrer Dienstzeit richtig abschalten können.

Der Vorschlag im EU-Parlament geht ebenfalls in diese Richtung. Gesetzgeber müssten technische Rahmenbedingungen vorgeben, um Arbeitnehmer in ihrer Freizeit abzuschirmen. Es gilt, Details auszutüfteln. Gefordert sind die europäischen Sozialpartner und dann die Kommission. Möglich wäre, dass E-Mail-Server so programmiert werden, dass sie außerhalb der Arbeitszeit keine Nachrichten senden und empfangen, Diensthandy hin oder her.

"Das Wesentliche an dem Vorstoß im Parlament ist, die Nichterreichbarkeit als fundamentales Recht in der Union zu verankern", sagt Gruber-Risak. Sollten Mitgliedsstaaten säumig sein, könnte sich ein betroffener Arbeitnehmer an den Europäischen Gerichtshof wenden.

Doch genau die hohe Flexibilität, die das digitale Zeitalter im Büro einkehren ließ, würde durch eine technische Abkopplung der Mitarbeiter eingeschränkt. Wenig verwunderlich, lobbyiert Business Europe, der größte Interessenverband der Wirtschaft dafür, den Vorstoß abzuschwächen, wie Abgeordneter Agius Silba schildert.

Nur auf dem Reißbrett

"Tatsächlich prallen zwei Ideologien aufeinander", sagt Gruber-Risak, der in dem Zusammenhang gerne auf Karl Marx verweist. Wird der Wandel der Arbeitswelt durch Druck oder Freiwilligkeit getragen? Eine pragmatische Lösung müsste beidem gerecht werden. Dass auf den Vorstoß im EU-Parlament Taten folgen, ist fraglich. Die Abstimmung ist bloß eine Handlungsaufforderung, Kommission und EU-Rat müssten von sich aus aufspringen. (Leopold Stefan, 21.1.2021)