Österreichs Boxsport ist am Boden. Die Boxer wollen von ihrem Trainer nichts mehr wissen, der Verband hält ihm die Treue und beklagt einen Mangel an Beweisen.

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Wenn in Österreich sportlich die Fäuste fliegen, ist der Name Nader meistens nicht weit. Marcos Nader ist Österreichs erfolgreichster Profiboxer, sein Vater Roman war bis 2017 Verbandspräsident. Der mächtigste Mann im hiesigen Boxen heißt aber Daniel Nader. Er ist Marcos' älterer Bruder und tänzelt auf vielen Hochzeiten: Der 38-Jährige ist Sportdirektor des Wiener Boxverbands, Präsident und sportlicher Leiter des größten Boxklubs Österreichs, Trainer seines Bruders und Nationaltrainer.

Letzteres könnte sich bald ändern, denn der jüngst suspendierte A-Kader des Nationalteams stellt sich nun auch öffentlich gegen seinen Trainer. Dieser Kader, das sind Umar Dzambekov, Ahmed Hagag, Alexander Mraovic, Marcel Rumpler, Edin Avdic und Deshire Kurtaj. Das Sextett legte dem STANDARD eine sechsseitige Dokumentation vor, die man fast als Anklageschrift bezeichnen muss – und die irgendwann zu einer werden könnte, denn die Sportler wollen Anzeige bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft erstatten.

Vorwürfe

Die Kurzfassung: Daniel Nader soll den österreichischen Boxsport autokratisch regieren, seine Günstlinge bevorzugen und auf Kosten der Sportler seinen Boxklub pushen. Auch von reduzierten Trainingslagern, Mobbing und sexistischen Beschimpfungen ist die Rede. Im Oktober gingen die Sportler auf Konfrontation, wollten Nader loswerden – und wurden von der Verbandsspitze mundtot gemacht. Nun gehen sie als letzten Ausweg an die Medien und zur Justiz.

Dass sich die nationale Elite eines Sports – die teilweise noch Chancen auf eine Qualifikation für Tokio 2021 hätte – so offen gegen ihren Nationaltrainer und die Verbandsspitze stellt, ist bemerkenswert. Aber der Reihe nach.

Weniger im Ausland

"Seit Nader Cheftrainer ist, haben wir viel weniger Trainingslager besucht als vorher", hält das Olympia-Sextett fest. 2014 habe es noch Trainingslager in Kuba und Berlin gegeben, dazu Turniere in Litauen und Frankfurt sowie die WM in Sofia. "In den letzten Jahren haben wir nur mehr Trainingswettkämpfe mit Ungarn oder der Slowakei gemacht – ganz billig, wo er selbst mit dem Bounce-Bus hinfahren konnte", erzählt Rumpler.

2020 gab es im März die wegen Corona abgebrochene Olympia-Quali in London samt Vorbereitung in Sheffield. Nach einem Trainingslager in Berlin hieß es im August: Die Förderbudgettöpfe für Beschickung und Trainer seien "nahezu erschöpft beziehungsweise die Beschickung ist massiv überschritten", angestrebte Turniere seien zu stornieren. Die Sportler fragen: Was, wenn die Olympia-Weltqualifikation in Paris nicht Corona zum Opfer gefallen wäre? "Natürlich ist das Budget knapp bemessen", sagt Verbandspräsident Daniel Fleissner. Da die verschobenen Turniere heuer stattfinden, habe der Verband das Geld im Vorjahr einsparen müssen.

Die jährliche Fördersumme ist jedenfalls relativ stabil. 2014 bekam der österreichische Boxverband 221.000 Euro aus Bundesmitteln, 2021 waren es 209.158 Euro plus je 7.000 Euro für drei Athleten in der Sonderförderungskategorie Nachwuchs/Anschluss.

Nebenjob Bundestrainer?

Die Sportler berichten von Interessenkonflikten bei Naders Aufgaben. So habe er Boxer über seinen Job als Bundestrainer zum Wechsel in seinen Boxklub Bounce gedrängt. "Es hat geheißen: Man kann nur im Bounce erfolgreich sein, nur dort geht es nach oben. Das ist das falsche Bild, das er die letzten Jahre verkauft hat", erklärt Dzambekov. Dass das Bounce gleichzeitig Box-Bundesstützpunkt ist, verkompliziert die Lage – Mitgliedsbeiträge mussten die Athleten trotzdem bezahlen.

Dzambekov war bis April 2016 bei einem anderen Verein. Als er mehr Zeit ins Boxen investieren wollte und vom Gymnasium auf die Leistungssporthandelsschule wechseln wollte, sei das vonseiten der Schule nicht gegangen. Nachdem er zu Bounce gewechselt war, wurde er aufgenommen. Ein Zusammenhang sei ihm angedeutet worden.

Redekunst

Ja, die Sportler können auch Gutes über ihren Trainer sagen. Charismatisch und redegewandt sei er, wobei sie das als Warnung vor seiner Manipulationsfähigkeit meinen. Als der A-Kader in einem Brief an die Verbandsspitze erstmals Naders Abberufung forderte, lancierten zwei Boxerinnen eine Gegendarstellung. Detail am Rande: Die Verfasserin des Briefs ist für PR und Marketing von Bounce verantwortlich. Unterschrieben wurde der Brief letztlich von fünf Kämpfern aus dem B- und C-Kader – darunter der Sohn eines Bounce-Sponsors.

Im Alltag lasse Naders persönlicher Umgang zu wünschen übrig, erzählt unter anderem Kurtaj. Als einzige Frau des Sextetts berichtet sie auch von sexuellen Anspielungen. "Es wurden arge Dinge gesagt – unter dem Deckmantel, es sei eh nur Spaß." Der Vollständigkeit halber: Physische Übergriffe habe es niemals gegeben. "Aber das Mentale bricht dich nach Jahren genauso sehr." Damit konfrontiert, sagt Nader: "Auf keinen Fall."

Angriff, Konter

Am 5. Oktober eskalierte der Konflikt. Fünf Boxer aus dem A-Kader meldeten sich geschlossen von Bounce ab und ersuchten die ÖBV-Führung um eine Vorstandssitzung. Mraovic schloss sich schnell als Nummer sechs an. Präsident Fleissner und Generalsekretär Martin Maresch lehnten eine Sitzung ab, auf Betreiben des Tiroler Verbands kam sie mit Unterstützung zweier weiterer Landesverbände schließlich doch zustande – online.

Quasi als Vorbote der Verbandssitzung bekam das Sextett einen mit 9. Oktober datierten Anwaltsbrief. Daniel Nader hatte die Kanzlei von Ex-Verbandspräsident Florian Höllwarth bevollmächtigt, der erinnerte die Athleten nachdrücklich daran, dass sie zur "Geheimhaltung von Vereinsinterna" verpflichtet seien. Eine Unterlassungserklärung war gleich angehängt, die Sportler unterschrieben sie nicht.

Aussage gegen Aussage

Bei der Vorstandssitzung am 14. Oktober sollten die Sportler ihr Anliegen erklären – bekamen dafür nach eigenen Angaben aber nicht genug Zeit. Auch die von den Sportlern vorbereitete Beweismappe, deren Inhalte dem STANDARD teilweise vorliegen, sei während der Sitzung ignoriert worden. Fleissner sagt: "Sie hatten die Möglichkeit, Beweise vorzulegen, wir haben sie sogar aufgefordert, das zu tun."

Kurtaj widerspricht dem. Die Sportler wären für alle Fragen offen gewesen, niemand aus der Vorstandsrunde hätte etwas wissen wollen. Zudem sagen die Sportler, dass sie bei kritischen Wortmeldungen stummgeschaltet worden seien. "Das stimmt nicht", sagt Fleissner. Er sei auf eine "gewisse Gesprächskultur und dass niemand unterbrochen wird" bedacht gewesen.

Suspension

Nach ihrer Verabschiedung wurden die "Ankläger" suspendiert, laut Fleissner mit einer "großen Mehrheit". Der Verband forderte im Anschluss die Übergabe aller Beweisstücke, für den Fall des Gangs zu den Medien wurde mit Rausschmiss gedroht. "Die Weitergabe von Informationen an Dritte (insbesondere MedienvertreterInnen) wird als verbandsschädigendes Verhalten gewertet und führt zum Ausschluss von sämtlichen an der Weitergabe beteiligten Personen aus dem Verband", unterzeichnete Verbandspräsident Fleissner – "mit sportlichen Grüßen".

Fleissner, Maresch und Nader waren bis zur Rochade im Bundesverband Kassier, Kassier-Stellvertreter und Sportdirektor des Wiener Verbandes. Der wiederum hat seinen Sitz an derselben Adresse wie Bounce.

Genug ist genug

Warum jetzt der Bruch? "Jeder wollte bis zu den Olympischen Spielen durchbeißen. Durch die Corona-Krise haben wir Abstand gewonnen und das ganze Bild gesehen", sagt Rumpler. "Ich hoffe, dass wir den Nachwuchs retten", sagt Dzambekov. "Es war einfach unzumutbar", sagt Kurtaj. In der Szene haben sie schon etwas bewegt: Unzählige aktuelle und frühere Boxer veröffentlichten unterstützende Stellungnahmen.

Auch Österreichs beste Profiboxerin Eva Voraberger verließ Bounce. "Wenn das alle sagen, muss etwas dran sein", sagt sie. Ihr Freund habe vor neun Jahren Ähnliches erlebt, er sei damals allein gewesen und gegangen. Aber: "Ich stehe für den Sport und nicht für die Verbandspolitik. Ich will mich raushalten, will keine Schlammschlacht daraus machen."

Nader entgegnet

Nader hat freilich eine andere Version der Gründe. Die Leistungen hätten teils nicht gepasst, manche hätten wegen ihres Aus als Heeressportler Sorgen. Und er stellt die Möglichkeit in den Raum, dass auch einer der Co-Trainer zur Fortsetzung des Qualiturniers fliegen könnte.

So kam es also, dass Sportler mit Olympia-Ambitionen in den letzten Monaten vor den entscheidenden Qualiturnieren ohne Kontakt zum Nationaltrainer boxen. Eine Versöhnung scheint schwierig. "Ich kann nicht meinen Nationaltrainer entlassen, wenn ich keinen Beweis habe", sagt Fleissner. (Martin Schauhuber, 21.1.2021)