Joe Biden hat sein Amt im Zeichen einer Bescheidenheit angetreten, die der Lage der amerikanischen Nation viel eher gerecht wird als die ganz großen Entwürfe. Er hat verzichtet auf Verheißungen, wie sie sonst oft zu hören waren, nachdem ein neuer Präsident am Kapitol seinen Eid abgelegt hatte. Verzichtet hat er auch auf Metaphern, die Politikern seines Landes manchmal allzu leicht über die Lippen kommen, wenn sie an einem Rednerpult stehen.

Die leuchtende Stadt auf dem Hügel, das Leuchtfeuer der Demokratie: Statt, wie andere es ohne großes Nachdenken tun, von der Außergewöhnlichkeit Amerikas zu schwärmen, hat er die Wirklichkeit eines innerlich zerrissenen Landes an einem Tiefpunkt seiner Geschichte realistisch beschrieben. Und ohne jede Überhöhung die Hoffnung geäußert, dass aus dem Tiefpunkt vielleicht ein Wendepunkt werden kann, wenn man es schafft, einander wieder zuzuhören. Nicht jede Meinungsverschiedenheit müsse ein Grund für Krieg sein: Vielleicht ist dies der Satz, der haften bleibt.

Biden bleibt sich treu

Indem Biden an seine Landsleute appelliert, zum respektvollen Dialog zurückzukehren, bleibt er sich treu. Fest in der moderaten Mitte verankert, versprach er bereits im Wahlkampf den Brückenschlag zwischen immer weiter auseinanderdriftenden politischen Lagern, die manche Politologen längst mit verfeindeten Stämmen vergleichen. Schon damals war er der Rettungssanitäter, der es sich zur Aufgabe machte, klaffende Wunden zu verbinden. Das Motiv kulminierte am Mittwoch in einer Rede, die fast ausschließlich im Zeichen des Heilens stand.

Ja, es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet dieser 78-Jährige Amerikas Hoffnungsträger ist. Er steht eher für die Rückkehr zur alten Ordnung als für den Aufbruch zu neuen Ufern. Was er symbolisiert, sind solides Regierungshandwerk und ein durch und durch pragmatischer Ansatz, Probleme zu lösen. Und das bedeutet in der heutigen Lage schon viel. Klar ist: Es wird, wenn überhaupt, nur in kleinen Schritten vorangehen bei dem Prozess der Vertrauensbildung, der mit seinem Amtsantritt beginnt. Das es gelingt, ist nicht garantiert. Doch von allen Kandidaten, die für den Höllenjob im Oval Office infrage kamen, ist Biden mit seinem Erfahrungsschatz, seinem Gefühl für das Machbare, seiner bodenständigen Sprache vielleicht derjenige, der am ehesten Erfolg haben kann auf dem langen Weg zurück zur Normalität. (Frank Herrmann, 20.1.2021)