Die Kulturveranstalterin Marlene Engel sieht ihre Zukunft in Berlin.

Foto: Heribert Corn

Die evangelische Gustav-Adolf-Kirche in Wien-Mariahilf. Holzstatuetten von Mozart und Beethoven schauen von der Orgel ins historistische Kirchenschiff hinab. Unten nimmt Marlene Engel auf der kalten Kirchenbank Platz. Ein Teil ihres Festivals für elektronische Musik – Hyperreality – hätte im Februar hier stattfinden sollen. Sitzend. Doch es wird wieder nichts. Wegen des verlängerten Lockdowns gilt es, einen neuen Termin zu finden. Zum vierten Mal dasselbe Spiel.

STANDARD: Was fasziniert das Technopublikum an sakralen Orten?

Engel: Wir wollen immer, dass sich Ort und Musik gegenseitig verstärken. In der Kirche planen wir den Album-Release der Musikerin Fauna. Ihr Album Syncronia ist sehr sphärisch, deswegen würde es hier klanglich gut wirken. Der zweite Grund ist, dass wir wegen der Covid-Verschiebungen mehrmals umplanen mussten und die Kirche die geforderten Sitzplätze bietet.

STANDARD: Aber gibt es etwas in der elektronischen Musik, das religiösen Charakter besitzt? Das Repetitive, die DJs auf der Kanzel?

Engel: Zur Parallelität von Rituellem und elektronischer Musik gibt es viele gute Texte. Der größte Unterschied zur Religion ist, dass es für die Praxis von Techno keine Regeln gibt. Religion wollte im idealistischen Sinn wohl auch nur Positives für eine Community erreichen, nur ist man irgendwann bei Regelwerken und Zwang oder Nähe zum Staat falsch abgebogen. Das kann auch beim Club passieren: Aus einem Ort, wo es ums Miteinander geht, wird vielleicht einmal ein klassizistischer Ort mit Bottle-Service und 40 Euro Eintritt.

STANDARD: Wie hätte das Hyperreality denn im Februar sicher über die Bühne gehen sollen?

Engel: Bei jedem Termin hätte es unterschiedlich ausgesehen. Jetzt im Februar sind wir von Sitzplatz und Maskenpflicht, Ausgangssperre ab 20 Uhr und negativem Antigentest ausgegangen. Darauf waren wir vorbereitet. Alle Gäste waren bereits informiert. Eigentlich denkbar sicher. Im Nachhinein wäre es aber besser gewesen, im Sommer ein Open Air zu machen. Nachher ist man immer schlauer.

STANDARD: Wie planen Sie aktuell?

Engel: Da es eine geförderte Kulturveranstaltung ist, kann ich es nicht einfach so absagen. Ich habe auch eine moralische Verpflichtung den Künstlern gegenüber. Wir müssen uns jetzt erst einmal sammeln und in Ruhe über einen neuen, vierten Termin nachdenken. Die Gefahr ist zu groß, dass wir für April einen Termin festlegen und dann angesichts der Unsicherheit durch die Virusmutationen vielleicht dieselbe Situation in Grün haben.

STANDARD: Können Sie den weiteren Lockdown nachvollziehen?

Engel: Abgesehen davon, dass uns die dritte Verlegung schon in eine verzweifelte Situation bringt, kann ich es natürlich verstehen. Besonders mit der neuen Virusvariante. Man will ja niemanden gefährden. Wichtig ist aber, dass man zugleich für die Leute, die es existenziell betrifft, Unterstützung schafft. Ein Politiker, der das nicht nachvollziehen kann, soll sich einfach vorstellen, er würde selbst, sobald er den Lockdown ausruft, kein Geld mehr bekommen.

STANDARD: Fühlen Sie sich von der Politik zu wenig unterstützt?

Engel: Bei der Clubkultur ist das eine schwierige Frage, weil sie so divers ist. Musiker, Clubs, Veranstalter, Kollektive haben die unterschiedlichsten bis keine Rechtsformen. Es gibt Leute, die sind bei der SVA gemeldet und dort relativ gut versorgt. Es gibt aber viele, die nicht darunter fallen. Ein Fehler ist, wie lange es dauert, bis die Hilfen ankommen: Eine Freundin von mir ist Einzelunternehmerin. Die hat jetzt erst ihren Einkommensteuerbescheid für 2019 bekommen, den sie aber schon seit Juni hätte haben sollen, um eine Förderung einreichen zu können. Man wartet und wartet, während es bei großen Unternehmen schneller geht, wie man so hört.

STANDARD: Wie stehen Sie zum Thema "Eintrittstesten", das nach dem Lockdown kommen könnte?

Engel: Wir haben das eigentlich positiv aufgenommen. Wenn es breitflächig die Möglichkeit gibt, Tests gratis zu machen, wenn man ihn sich vielleicht nach Hause zuschicken lassen kann, finde ich es gut. Das berühmte Mantra, der Club soll ein Safe Space sein, muss auch jetzt gewährleistet sein.

STANDARD: Wien war in den letzten Jahren ein zartes, aber doch wachsendes Pflänzchen, was die Clubkultur betrifft. Wie wird die Szene nach Corona aussehen?

Engel: Also ich würde mir mehr Zusammenhalt und spartenübergreifende Zusammenarbeit auch mit den großen Hochkulturhäusern wünschen. Die Etablierung der Vienna Club Commission ist sicher ein guter erster Schritt, aber ausbaubar. Um Clubförderung kann man zwar ansuchen, aber nur, wenn man einen fixen Standort hat, nicht als Veranstalter. Es kommt daher eher einer Gastroförderung gleich.

STANDARD: Wird es einen New Deal bei der Subventionierung der Kultur geben müssen? Die großen Theater und Museen erhalten die Hälfte der Budgets, die freie Szene 10 Prozent oder weniger.

Engel: In der Stadt Wien hat sich das im Bereich Musik in den letzten drei Jahren eh verbessert. Da wurden Töpfe sehr nennenswert erhöht. Jetzt hört man viel von Fair-Pay-Konzepten. Corona hat dieses Problem der Prekarität, das es kulturpolitisch schon immer gab, um Jahre vorgespult.

STANDARD: Vom internen Verteilungskampf in der Kulturbranche halten Sie nichts?

Engel: Als Gegeneinander sehe ich es gar nicht, nein. Man könnte natürlich nachdenken darüber, wie man die großen Häuser der Hochkultur personell besetzt. Es gab im letzten Jahr zum Beispiel keine Anstalten von Seiten der Großen, sich der freien Musikszene anzunehmen. Dabei wären solche Kooperationen zwischen freier Szene und etablierten Häusern sowohl künstlerisch als auch kulturpolitisch interessant. Eine gewisse Wandlungsfähigkeit könnte man schon verlangen.

STANDARD: Sie sind häufig in der Clubmetropole Berlin unterwegs: Wie geht Berlin bzw. Deutschland mit der Veranstalterbranche um?

Engel: Es gab am Anfang relativ rasch und unbürokratisch mehr Geld für freie Künstler. Einer meiner Verbesserungsvorschläge kommt auch aus Berlin: Dort richtet sich die Clubförderung nicht nur an feste Lokale, sondern auch an Kollektive, Labels, Veranstalter und Initiativen.

STANDARD: Haben Sie irgendwann im letzten Jahr schon einmal gedacht: Okay, das war’s, ich tu mir das nicht mehr an und wechsle den Job?

Engel: Also ich höre eh auf. Ich trete ab März einen neuen Job in Berlin an. Das wusste ich aber schon vor der Krise. Umso glücklicher bin ich jetzt darüber, demnächst wieder eine gewisse existenzielle Sicherheit zu haben.

STANDARD: Was heißt das fürs Hyperreality?

Engel: Wie und ob es mit Hyperreality weitergeht, wird sich zeigen. Aktuell ist wichtig zu klären, wie man die Kosten für eine erneute Verschiebung decken kann. Einen Verein mit Schulden will wohl niemand übernehmen. Es reicht schon, dass man trotz Krise immer eine Restverantwortung für Finanzen trägt. Ich glaube, erst wenn 2020 über die Bühne ist, wird sich das Team entscheiden, ob es in der Form weitermachen kann und will. Ich werde nicht mehr involviert sein.

STANDARD: Es gab während der Corona-Zeit auch illegale Partys. Können Sie das verstehen?

Engel: Also diese ganzen Martin-Ho-Partys finde ich peinlich. Wenn jemand, der eh auf so viel Geld sitzt und mit so vielen politischen Kontakten in Richtung Volkspartei ausgestattet ist, sich dann noch gebärdet, in irgendwelchen Almhütten im 19. Bezirk Corona-Partys zu feiern, ist das letztklassig. Aber solange die Kommunikation vonseiten der Regierung zweigleisig ist, wird es auch in Privatbereichen Probleme geben. Wenn es okay ist, in einer Gondel zu sitzen und Ski zu fahren, andere aber auf eine enge Kontaktperson reduziert werden, dann sind die Leute nicht besonders motiviert, sich daran zu halten.

STANDARD: Clubkultur heißt aber eben auch Exzess, Rausch, Feiern: Wie sehr fehlt Ihnen das?

Engel: Ich freue mich am meisten, endlich wieder auf einer lauten Anlage Bässe spüren zu können. Und vielleicht danach im Hof mit ein paar Leuten ein Bier zu trinken. Musik ist und war immer ein Kollektiverlebnis. Ich bin übrigens gerne auch die Erste, die sich impfen lässt und dann oben ohne im Berghain steht. (Stefan Weiss, 22.1.2021)