Es waren Tage schwerer Entscheidungen, an ethischem Gewicht höchstens noch mit der des Herkules am Scheideweg zu vergleichen. Das einfache Volk, vom Bundeskanzler abwärts bis hinunter zum "Krone"-Moralisten, macht sich ja keinen Begriff von der Gewissensqual, die ein Bürgermeister durchleidet, wenn er bei einem zufälligen Aufenthalt in einem Pflegeheim auf eine einsam herumliegende Impfdosis gegen Corona trifft und aus dem Stegreif entscheiden soll, ob er sie sinnloser Verschwendung preisgeben oder ob er sich, um wertvolles Serum zu retten, selber mit Todesverachtung in die Nadel stürzen soll. Wäre seine Alternative, als Held oder Schurke in die Geschichte seiner Gemeinde einzugehen – kein Zweifel, wofür er sich entscheiden würde.

Lautet die Alternative aber Held oder Held, dann steht er vor einer moralischen Aporie, die größere Geister überfordern würde. Er muss entscheiden, soll er einer von Impfskeptizismus angekränkelten Gemeinde auch ungereiht als früh gespritztes Ideal voranleuchten oder soll er als sparsamer Gemeindevater von dem ohnehin so mühsam verteilten Stoff auch nicht die kleinste Portion verkommen lassen. So gesehen, kann es nur eine Entscheidung geben. Die allerdings nur gilt, wenn es sich um ein einziges Impfrestl handelt, bei dreien stellte sich das Problem wieder anders, woran man sieht, wie kompliziert eine solche Entscheidung ist. Wer der Meinung ist, eine Impfung so rasch wie möglich wäre Bürgerpflicht, wie sehr muss er sie erst als Bürgermeisterpflicht einfordern.

Verqueres Freiheitsbedürfnis

Auch den Polizeiminister stellte die Corona-Diktatur, der wir bis auf weiteres alle unterliegen, vor jene Art von schwerer Entscheidung, von der man in Österreich von vornherein weiß, wie sie ausfallen wird: Sie fiel aus. Sie hätte getroffen werden müssen, als tagelang die offene Ankündigung zu hören war, es würden tausende Menschen in Wien aufmarschieren, um ohne Mundschutz und in engem Kontakt querdenkend bis identitär gegen die Regierung zu demonstrieren. Da gab es statt einer Entscheidung eine Richtlinie, deren Geist nicht die Spur jener Entschlossenheit enthielt, die Karl Nehammers Rhetorik so gern vortäuscht. Die mannhafte Entscheidung folgte dann nach dem Aufmarsch der Neonazis mit Narrensaum, und sie bestand in der Ankündigung des Ministeriums, man werde "evaluieren", warum die eskortierenden Polizisten nicht einmal die lauwarme Richtlinie befolgten, für die Einhaltung der Corona-Regeln zu sorgen. Stattdessen viel Zutraulichkeit.

Dass sich Teilnehmer des Aufmarsches bei der Polizei für deren Samariterdienste bedankten, war das Mindeste. Ist sie doch nicht eingeschritten, damit sich Menschen, die aus einem verqueren Freiheitsbedürfnis ohne Masken und Impfung aufmarschieren, bei eisigen Temperaturen nur nicht verkühlen oder gar anstecken. Da feiert der alte Slogan fröhliche Urständ, die Polizei dein Freund und Helfer, wenn du rechtsradikal oder mindestens Querdenker bist. Gegen Antifaschisten ließ die Polizei die Hunde heraus.

Dieses Rezept wurde neulich in Graz ausprobiert. Nun darf man gespannt sein, was Nehammer evaluieren lässt. Der Kanzler sagte von impfgeilen Bürgermeistern, sie machten ihn wütend und zornig. Wo es nur um die Demokratie geht, sah er keinen Anlass zur Aufregung. (Günter Traxler, 22.1.2021)