"Ich denke sowieso mit dem Knie": Beuys erweiterte den Kunstbegriff derart, dass seine Werke als "soziale Plastiken" bereits mit Denken und Sprache begannen.
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Beuys als Aktionskünstler

Als Selbstdarsteller war Beuys ein Gesamtkunstwerk, in dem Kunst und Leben einander durchdrangen. Ein Vierteljahrhundert lang trat er öffentlich auf, nicht nur in seinen rund 70 Aktionen, sondern auch als Redner, Medienfigur und Politiker-Anwärter.

Peter Handke schrieb 1969 über Beuys’ Aktion Titus, Iphigenie und das Pferd im Frankfurter Theater am Turm, dass er "noch rechtzeitig den Zuschauerraum betrat, um den Vorhang aufgehen und ein weißes Pferd im Hintergrund der Bühne stehen zu sehen". Da zeigte sich Beuys’ Nähe zur neodadaistischen Fluxus-Performance: Im Gegensatz zu den "Happenings" à la Allan Kaprow entzog sich sein Auftreten jeglicher Beteiligung des Publikums.

Dieses musste, so Handke, gegen den eigenen inneren Widerstand selbst "Arbeit leisten". Denn trotz Bühne, Vorhang und Mitwirkung von Claus Peymann und Wolfgang Wiens war hier kein Drama, sondern ein herausfordernd repetitives Ritual zu erleben. Handke berichtete: "Die Zuschauer ließen es bei ihrer selbst verschuldeten Lähmung bewenden."

Gegen derlei Erstarrung ist Beuys unbeirrbar angerannt, auch außerhalb des Theaters. Zum Beispiel 1974 bei I like America and America likes Me. In dieser berühmten Aktion lebte Beuys einige Tage lang zusammen mit einem echten Kojoten in einem New Yorker Galerieraum.

Begonnen hatte sein Aktionswerk 1962 mit einem nicht realisierten Erdklavier, und letztmals trat Beuys 1985 (allerdings nur via Telefon) bei einem Simultankonzert mit Henning Christiansen und Nam June Paik auf. Auch Wien hat er besucht, zum Beispiel 1967 mit der Aktion Eurasienstab 82 min fluxorum organum (eine Anspielung auf Maciunas’ Fluxus-Manifest) in der Galerie nächst St. Stephan.

Wesentlich bekannter geworden sind die früheren Performances Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt – was er dabei tatsächlich tat – und die blutige Nase, die sich Beuys 1964 bei einer Aktion am Festival der neuen Kunst in Aachen von einem empörten Besucher holte. (ploe)

Beuys als Schamane

An dieser Geschichte arbeiten sich Apostel und Gegner des als "Guru" verehrten oder als "Scharlatan" geschmähten Idealisten seit Jahrzehnten ab: Wurde Beuys tatsächlich 1944 mit seinem Flugzeug über der Halbinsel Krim abgeschossen und dann einige Zeit von Tataren gepflegt, mit Fett eingeschmiert und in Filz gewickelt? Oder kam er nach dem Absturz ins Lazarett – oder: Wurde etwa beim Eintrag ins Wehrmachtslazarett-Aufnahmeregister, auf den sich Zweifler berufen, geschwindelt?

Ob wahr oder – wie Ehefrau Eva vermutet – Fiebertraum, diese Legende begründete Beuys’ Ruf als Kunst-Schamane: Fett (Ecken!) und Filz (Hut!!) wurden zu seinen wichtigsten Werkmaterialien.

Die umfassende Bildung des Bewunderers von Leonardo da Vinci gilt als Basis für sein Kunstverständnis: Beuys liebte Naturwissenschaften, Rudolf Steiners Anthroposophie und Sprache per se. 1950 veranstaltete er eine Lesung von James Joyces Finnegans Wake und erweiterte dessen Ulysses um zwei Kapitel.

Kein Gedanke an Beuys ohne den "erweiterten Kunstbegriff" und die "Soziale Plastik". Sein Diktum, dass "jeder Mensch ein Künstler" sei, hat er wiederholt präzisiert. Er meinte: In uns allen stecke Kreativität. Die Soziale Plastik begann für ihn schon beim Denken und bei der Sprache. Er hoffte, dass bald anders gedacht werde, zum Beispiel, wie er pointiert sagte, "mit dem Knie". Wer Materielles und Spirituelles verbinden konnte, war für ihn ein Schamane.

"Ich bin ein ganz scharfer Hase!", soll Beuys einmal gewitzelt haben. Seinem Biografen Heiner Stachelhaus zufolge galt ihm der Hase als "Außenorgan des Menschen". Ob Hoppler, Biene, Hirsch oder Schwan, das Durcharbeiten etlichen Getiers trug ebenso zu seinem Ruf als Schöpfer eines neuen Weltmodells bei wie seine unbedingte Ökologie. All das machte ihn, seine Aufmüpfigkeit und seinen körperlichen Selbstverschleiß zum Mythos. (ploe)

Beuys als Lehrer

Beuys‘ aktivistischer Geist – in politischer sowie künstlerischer Hinsicht – fand in seiner Funktion als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf den vollendeten Ausdruck. So nutzte er beispielsweise die Parteigründung der Studentenvereinigung, um die Debatte um eine Hochschulreform von der rein schulinternen Diskussion zu einer öffentlichen zu machen. Studierende sollten in die Hochschulabläufe mit einbezogen werden, so die Idee. Er wollte das Schulwesen aus seinen "staatlichen Zwängen" befreien.

Mit Unterrichtsmethoden wie seinen "Ringgesprächen" brach er die hierarchische Wissensvermittlung auf, provozierte offene Diskussionsrunden und propagierte die "radikale Gleichberechtigung von Lehrer und Schüler". "Derjenige, der gerade redet, ist Lehrer. Der, der gerade zuhört, ist Schüler", lautete sein Credo. Statt im Hörsaal lehrte Beuys lieber im Atelier.

Aus seiner Klasse gingen im Laufe der Zeit bekannte Kunstschaffende wie Anselm Kiefer oder Katharina Sieverding hervor. Viele seiner sogenannten Jünger blieben ihm auch zeitlebens verbunden.

Beuys, der sogar am Samstag an der Akademie gearbeitet haben soll, galt in vielerlei Hinsicht als ungewöhnlicher Lehrer. Immer wieder eckte er mit seinen liberalen Maßnahmen innerhalb der Hochschule an, lieferte sich Konfrontationen mit der Kollegenschaft.

Seine Aktion 1972, als er mit rund 60 von der Akademie zurückgewiesenen Bewerbern das Sekretariat eine ganze Nacht lang besetzte, war schließlich der Auslöser dafür, dass Beuys fristlos entlassen wurde – ein Riesenskandal, der mit Polizeiaufmarsch beendet wurde. "Und wenn sie mit Panzern kommen", soll er damals gerufen haben. "Ich bleibe."

Er hatte die Aufnahme der Bewerber gefordert und das System dahinter kritisiert, wobei seine Klasse bereits 270 Studierende zählte. Nach langem Prozess erlangte er 1978 seinen Professorentitel und sein Atelier in Raum 3 zurück. (kr)

Beuys als Politiker

Nachdem bei den Demonstrationen gegen den Besuch des persischen Schahs 1967 der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde und Rudi Dutschke von einem "politischen Mord" sprach, war für Beuys der Zeitpunkt gekommen, sich politisch einzumischen. Aus öffentlichen Gesprächsrunden an der Kunstakademie in Düsseldorf, an der er seit 1961 lehrte, gründete er die Deutsche Studentenpartei als proeuropäischen Zusammenschluss, die er auch als eigenständiges Kunstwerk bezeichnete.

Jeder Mensch sei Gestalter der Zukunft, war Beuys überzeugt. "Die Zukunftsgestaltung am sozialen Ganzen ist der allerhöchste Kunstbegriff, da ist jeder Mensch betroffen", sagte er 1984 in einem Kunstforum-Interview.

Beuys wollte die Gesellschaft durch Kunst demokratisieren, die politische Arena schien ihm die geeignete Bühne dafür. Später war er an der Gründung der Partei der Grünen in Deutschland beteiligt, die 1979 erstmals für das Europaparlament kandidierten. Ein von ihm gestaltetes Plakat – mit Hasen – wurde zur Wahlwerbung.

Bereits früh wies Beuys auf die drohende ökologische Krise hin und trat dafür ein, dass auch Pflanzen und Tiere ihr eigenes Rechtssystem verdienen würden. Obwohl er später noch als Spitzenkandidat der Liste Nordrhein-Westfalen für den Bundestag antrat, entfernte sich Beuys Mitte der 80er von der Partei. "Die Grünen sind stinklangweilig geworden", befand er.

Naturmaterialien spielten in den Kunstwerken des vielfachen Documenta-Teilnehmers eine bedeutende Rolle: Für eine seiner bekanntesten Aktionen ließ Beuys zur Documenta 7 im Jahr 1982 ganze 7000 Eichen und je eine Basaltstele im Stadtraum von Kassel pflanzen – mit der sozialen Plastik griff Beuys nachhaltig in die Umgebung ein:

Nach fünf Jahren wurden die Eichen der Stadt geschenkt und 2004 unter Denkmalschutz gestellt. Über die Jahre schrieben sie sich als Kunstwerk in das Stadtbild ein. Bis heute erinnern sie an ihren Förderer und sein so aktuelles Werk. (kr, 22.1.2021)