Eine Frau soll nach ihrer Flucht aus der Zwangsprostitution neuerlich ausgebeutet worden sein – von ihren Helfern. Die bestreiten das vor Gericht vehement.

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Wien – Der Vorwurf, den Staatsanwältin Sonja Herbst gegen Daniela D. und Ahmed T. erhebt, betrifft wirklich Niederträchtiges: Die beiden sollen im Februar 2018 eine eben aus der Zwangsprostitution entkommene 32-Jährige, die bei ihnen Obdach fand, neuerlich zur Prostitution gezwungen und ihr das dabei verdiente Geld abgenommen haben. Ob dieser Vorwurf gegen die beiden Unbescholtenen auch stimmt, muss Richter Daniel Schmitzberger klären.

Der schickt die Erstangeklagte aus dem Saal und beginnt mit der Vernehmung des Zweitangeklagten. Der 28-jährige Angestellte bekennt sich nicht schuldig und weiß eigentlich gar nicht, wie er überhaupt in die ganze Sache geraten ist. Er habe die 22-jährige Erstangeklagte 2017 in einer Disco kennen und lieben gelernt, daher habe die Venezolanerin in seiner kleinen Wohnung gelebt.

Freundin bat um Unterschlupf

Eine Freundin aus der Heimat namens Vanessa habe D. im Februar 2018 kontaktiert, ob sie bei ihnen Unterschlupf finden könnte, T. hatte nichts dagegen. "Haben Sie von der Frau Miete verlangt?", will der Richter wissen. "Nein, zunächst nicht. Sie hat gesagt, sie hat kein Geld. Aber dann ist sie einmal mit Daniela in der Lugner-City gewesen und hat richtig viele Sachen gekauft. Sicher um 200 bis 300 Euro." Als er sie daher darauf ansprach, dass sie sich an den Wohnkosten beteiligen sollte, lehnte Vanessa ab. Daher zog sie nach zehn bis 14 Tagen wieder aus.

Wobei – T. sprach die Frau nicht direkt an. Denn der ägyptischstämmige Österreicher spricht kein Spanisch, in dem die beiden Frauen sich lebhaft und viel unterhielten. Seine Freundin D. wiederum weder Deutsch noch Arabisch. Man behalf sich mit einem Übersetzungsprogramm und bruchstückhaftem Englisch. Mit Vanessa habe er sich de facto überhaupt nicht unterhalten.

"Wollte diese Scheiße nicht weitermachen"

"Haben Sie gewusst, dass Vanessa in der Zeit der Prostitution nachgegangen ist?", fragt Schmitzberger den Zweitangeklagten. Der verneint, er sei aber auch nicht ständig da gewesen, da er ja gearbeitet habe. "Hat Ihnen Ihre Freundin gesagt, dass sie Sex gegen Geld macht?" – "Nein, nicht genau. Erst später. Sie sagte, die Gruppe im Hintergrund sei stärker als sie und würde ihre Eltern bedrohen. Ich habe dann verstanden, dass sie diese Scheiße nicht weitermachen will." Rund ein Jahr lang sei er 2017/18 mit der Erstangeklagten zusammen gewesen, resümiert T. noch.

D. bestätigt bei ihrer Vernehmung T.s Geschichte und erzählt ihre. Sie sei 2017 unter falschen Versprechungen aus Venezuela nach Österreich geholt worden und musste hier der Prostitution nachgehen. Einen Teil des Geldes durfte sie behalten, sie schaffte es schließlich, sich von der Gruppe, gegen die getrennte Verfahren liefen, zu lösen.

Erstangeklagte will Freundin gewarnt haben

Vanessa kannte sie bereits von einem Schönheitswettbewerb in Venezuela. "Sie war meine Freundin", erklärt die hochschwangere D. dem Richter. Und sie soll gewusst haben, dass D. in Österreich war, denn sie rief sie an. "Sie hat gefragt, wie meine Arbeit so ist. Ich habe gesagt, dass es keine so gute Erfahrung ist und ich mich prostituieren muss", lässt die 22-Jährige übersetzen. "Sie ist danach aber trotzdem gekommen." – "Können Sie sich das erklären, wenn Sie sie schon warnen?", fragt Schmitzberger. "Ich kann es nicht wirklich nachvollziehen. Aber ich kann mir vorstellen, weil man in Venezuela wenig verdient."

Am 8. Februar 2018 habe Vanessa sie per Whatsapp benachrichtigt, dass die Polizei in der Unterkunft der Geheimprostituierten gewesen sei und sie von der Gruppe, die sie nach Österreich geholt hatte, auf die Straße gesetzt worden sei. Nach Rücksprache mit ihrem Freund, dem Zweitangeklagten, sei Vanessa dann bei ihnen eingezogen.

30 Prozent Umsatzbeteiligung

"Sie hatte dann Angst, dass ihr das Geld ausgeht, und wollte mit der Prostitution weitermachen", behauptet die Erstangeklagte. "Ich hatte noch eine Nummer vom Kontakt-Bazar und habe ihr bei der Organisation geholfen." – "Was haben Sie da gemacht?", interessiert den Richter. "Wir haben beide den Kunden Nachrichten geschickt und die Termine vereinbart." – "Wofür hat Vanessa dazu Sie gebraucht?" – "Ich hatte das Telefon, und die Anmeldung beim Kontakt-Bazar war schon bezahlt." – "Wie viel haben Sie für die Organisation bekommen?" – "30 Prozent." – "Halten Sie das für angemessen?" – "Damals kam es mir angemessen vor. Allein die Anmeldung kostete 150 oder 200 Euro."

In den knapp zwei Wochen, als sie zusammen wohnten, seien es insgesamt acht Kunden gewesen, die 80 Euro für eine halbe und 150 Euro für eine Stunde mit Vanessa bezahlt haben, sagt die Erstangeklagte. In der eigenen Wohnung sei nie etwas passiert, man sei immer ins Hotel oder die Wohnung der Freier gefahren. Auf die Frage der Privatbeteiligtenvertreterin gibt sie zu, möglicherweise Taxis für ihre Landsfrau organisiert zu haben, da sie besser Englisch spreche.

Falsches Jobangebot als Kellnerin

Vor der Einvernahme Vanessas schickt der Richter die beiden Angeklagten aus dem Verhandlungssaal, um mögliche Ängste bei der Zeugin zu vermeiden. Die 32-Jährige schildert auf die Frage Schmitzbergers, wie sie nach Österreich gekommen ist. "Es gab in Venezuela ein Arbeitsangebot, ich sollte in einem Restaurant als Kellnerin arbeiten können", erinnert sie sich. "Als ich im Jänner 2018 dann hier war, sah ich, dass das nicht so ist", fasst sie zusammen.

D. habe sie von dem Schönheitswettbewerb gekannt, aber vor ihrer Atlantiküberquerung keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Vanessa behauptet, erst in Wien davon erfahren zu haben, dass auch D. für die Gruppe arbeiten musste. Nach der Razzia habe sie D. auf Instagram gefunden und von ihrer misslichen Lage erzählt. "Ich hatte nur noch 1.700 Euro und wusste nicht, wo ich hin sollte."

Der Richter stutzt. "Sie sind in einem fremden Land, wurden gerade aus der Zwangsprostitution befreit und haben 1.700 Euro in bar? Warum sind Sie nicht sofort zum Flughafen gefahren und haben sich ein Ticket in ihre Heimat gekauft?" – "Ich wusste nicht, dass man das so macht. Ich hatte ja auch ein Rückflugticket ..." – "Wieso haben Sie dann nicht das genutzt?" – "Das war erst für Ende März gültig."

Angeblich 60 Euro Miete pro Tag

Sie sei also zu den beiden Angeklagten gekommen, die Aufnahme durch diese stellt sie aber gänzlich anders dar. "D. sagte, ich muss T. 60 Euro geben", behauptet sie. Pro Tag – dreimal habe sie das gemacht, dann habe sie sich Sorgen um ihr Erspartes gemacht. "Dann sagte Daniela 'Gut, dann musst du halt arbeiten!'" Die Erstangeklagte habe die Treffen organisiert, mit sechs bis acht Männern habe sie täglich Sex haben müssen, erzählt die Zeugin.

Anklägerin Herbst wird skeptisch. "Sie haben doch gesagt, Sie hatten 1.700 Euro? Warum sind Sie dann nicht einfach gegangen? Mit dem Geld kann man sich ja auch ein Hotelzimmer nehmen?", fragt sie. "Was hätte ich davon gehabt?", lautet die Gegenfrage. "Sie hätten sich nicht gegen Ihren Willen prostituieren müssen?", zeigt die Staatsanwältin eine Option auf.

Vanessa erzählt auch, sie habe auf Geheiß der Erstangeklagten Dinge machen müssen, die sie nicht wollte. Der Richter blättert in den Akten. Die Zeugin hat dem Gericht ihren Chatverkehr mit der Erstangeklagten zur Verfügung gestellt. Dort findet sich zwar ein Dialog, in dem es um eine bestimmte Konstellation geht, Vanessa antwortete damals aber einfach, dass ihr davor grause, womit die Diskussion endete.

Erstangeklagte soll gedroht haben

In dem Zusammenhang bleibt auch vage, warum genau die Zeugin vor der zehn Jahre jüngeren Erstangeklagten Angst hatte. D. habe gedroht, der Familie in Venezuela etwas anzutun, behauptet Vanessa.

Der Richter blättert weiter in den Chatprotokollen, denn ihm ist noch etwas aufgefallen. "Wie haben Sie denn mit Frau D. kommuniziert?", will er von der Zeugin wissen. "Nur über Whatsapp", antwortet diese. "Sie haben mir Nachrichten von fünf Tagen im Februar 2018 vorgelegt. Das ist nicht recht viel Kontakt, wenn Sie angeblich bis zu acht Kunden am Tag besuchen mussten", merkt Schmitzberger an. Noch dazu finden sich keinerlei Drohungen, außer dass man den Kunden verlieren würde, wenn sie eine halbe Stunde zu spät käme.

Keine Anzeige bei Polizei

Nach knapp zwei Wochen will Vanessa dann ausgezogen sein und mit der Prostitution aufgehört haben. "Warum nicht mehr?", hakt der Richter nach. "Ich wurde bestohlen, mein Pass und mein Geld waren weg, ich bin zur Polizei gegangen und habe das angezeigt. D. hat mich da mehrmals versucht zu erreichen, dann ist sie verschwunden", behauptet die Zeugin. "Und haben Sie bei der Polizei gesagt, dass Sie ausgebeutet werden?" – "Nein, ich habe nur den Diebstahl angezeigt. Ich hatte ja Angst." – "Aber wieso? Sie wussten ja, dass Sie aufhören werden? Dann hätten Sie ja erst recht Angst haben müssen?", kann Schmitzberger nicht ganz folgen. Eine Antwort erhält er nicht.

Im März 2018 nutzte Vanessa tatsächlich ihr Rückflugticket. Und kam im Mai 2019 wieder nach Wien. "Wieso das?", fragt Schmitzberger. "Da ich in Venezuela bedroht wurde." – "Von der Tätergruppe, die Sie ursprünglich nach Österreich geholt hat?" – Die Zeugin nickt. "Aber warum kommen Sie dann nach Österreich zurück, wo ja genau ein Teil dieser Tätergruppe ist?" – "Ich war in Venezuela bei der Polizei und einem Frauenschutzzentrum. Dort wurde ich ignoriert. In Österreich konnte ich mit den Behörden sprechen."

Späte Beschuldigung

Der Richter atmet vor den nächsten Frage tief unter seinem Mund-Nasen-Schutz ein und aus. "So richtig eilig war es nicht. Sie sind am 21. Mai eingereist und haben am 16. Jänner 2020 Anzeige gegen die beiden Angeklagten erstattet. Wieso warten Sie ein halbes Jahr?", hält er der Zeugin vor. "Na ja, ich war einmal zwei Monate hier, dann ging ich zur Caritas", weicht Vanessa aus. Im August stellte sie einen Asylantrag. "Wann war da die erste Befragung?" – "Im Dezember 2019." – "Und einen Monat später kommt die Anzeige", stellt der Richter lapidar fest.

Auch die Staatsanwältin interessiert noch etwas: "Wovon haben Sie denn von Mai bis August 2019 gelebt?" – "Ich hatte Geld mitgebracht aus Venezuela." – "Was haben Sie denn dort gearbeitet?" – "Werbung und Marketing", lautet die Antwort.

Privatbeteiligtenvertreterin sieht kein Motiv für Lüge

Vanessas Rechtsvertreterin fordert am Ende des Verfahrens noch 7.500 Euro von den Angeklagten, so viel Geld sollen sie der Zeugin mindestens abgenommen haben. In ihren Schlussworten versucht sie auch den Richter noch zu überzeugen, dass die Anklage korrekt sei, da ihre Mandantin ja keinen Grund habe, die beiden Angeklagten zu belasten. Sie sei ja ohnehin bereits Opfer der anderen Gruppe gewesen.

Schmitzberger sieht das ganz anders und spricht D. und T. frei. Deren Verantwortung sei "nachvollziehbar und glaubwürdig" gewesen, begründet er seine Entscheidung. Vanessa dagegen "habe ich einfach für nicht glaubwürdig gehalten". Zu viele Widersprüche lassen ihn daran zweifeln, dass irgendein Zwang gegen sie ausgeübt wurde. Die Staatsanwältin schließt sich dieser Einschätzung an, die Freisprüche sind daher rechtskräftig. (Michael Möseneder, 22.1.2021)