Eine Entdeckung: Adarsh Gourav (hier mit Priyanka Chopra Jonas) als Chauffeur und Diener in "The White Tiger".

Foto: Netflix

Der Hahn im Käfig sieht dem eigenen Tod alternativlos entgegen. Es ist ein drastisches Bild, das in The White Tiger den fehlenden Spielraum des Kastensystems in Indien zum Ausdruck bringt. Stück für Stück wird das Hühnerfleisch mit dem Messer filetiert, während sich hinter der Schlachtbank die weiteren Käfige mit Federvieh stapeln. Entkommen kann man seinem Schicksal kaum, denn es mangelt, auf den Menschen übertragen, schon an der Vorstellung, dass es an einem selbst läge, die Lage zu verändern.

Netflix

Balram Halwai, der Antiheld von Ramin Bahranis Film, wählt diesen Vergleich, um seinen eigenen Status zu beschreiben. Als Sprössling einer armen Bauernfamilie und dementsprechend niederen Kaste, setzt er sozialen Aufstieg mit einem eher unambitionierten Ziel gleich. Chauffeur und Diener zu sein, zumal des polyglotten, aus den USA heimgekehrten Sohnes eines korrupten Tycoons, bedeutet für ihn, schon einmal sehen zu können, wie sich ein Platz in der Sonne anfühlt. Alles ist eine Frage der Perspektive.

Anti-"Slumdog"

The White Tiger stellt eine Art zynischen Gegenentwurf zur märchenhaft-naiven Aufstiegsgeschichte von Slumdog Millionaire dar, dem Oscar-prämierten Welthit von 2008. Retrospektiv erzählt, stilistisch an Martin Scorseses launenhaften Gangsterepen wie Good Fellas angelehnt, folgt der Film dem gutmütigen Balram durch einen an Demütigungen reichen Erkenntnisprozess. Seinen Berufswunsch hat er sich zwar mit Schläue schnell erfüllt. Doch man lässt ihn spüren, dass er nicht mehr als ein Leibeigener dieser Familie ist, die sich mit Schwarzgeld ihren Status sichert. Der Weg in die boomende Gig-Economy scheint für ihn weiter verstellt, weil das Kastensystem nur kapitalistisch vereinfacht wurde: Das Land teilt sich nun in Menschen mit gewölbten Bäuchen auf – und solche ohne.

Der iranisch-amerikanische Regisseur ist aus mehreren Gründen der passende Mann für diesen Film. Wer Aravind Adigas 2008 mit dem Booker-Preis ausgezeichneten burlesken Entwicklungsroman zu Hause hat, findet leicht heraus, dass er Bahrani bereits gewidmet war. Die beiden haben gemeinsam an der Columbia University studiert, neben der Freundschaft verbindet sie ihr Interesse für Figuren, die aus dem Wirtschaftssystem gefallen sind, oft mit migrantischen Wurzeln.

Freunde seit Uni-Zeiten

Bahrani hat sich mit Independent-Filmen wie Man Push Cart (2007) oder Good Bye Solo (2008), die Alltagsmenschen wie den pakistanischen Betreiber einer mobilen Essensbudel ins Zentrum rückten, einen Namen als präziser Beobachter von Arbeitswelten gemacht. Die Netflix-Produktion The White Tiger ist seine bisher größte, und sie spiegelt auch eine zunehmend global ausgerichtete Filmkultur wider.

Der Film braucht kein "Zugeständnis" eines westlichen Stars mehr, Priyanka Chopra Jonas und Rajkummar Rao, die das reiche, scheinbar so moderne Vorzeigepaar spielen, sind über Indien hinaus bekannt, Adarsh Gourav ist als Balram sogar eine beeindruckende Neuentdeckung.

Im Film werden die wechselseitigen Verbindungen der Kontinente selbst zum Thema. Balram wird nach einem tragischen Zwischenfall langsam einsehen, dass ihn nur ein gehöriges Maß an Skrupellosigkeit aus seiner servilen Voreinstellung befreien kann, auf das liberale Wohlwollen seines Herrn sollte er besser nicht hoffen. Der Film versucht in viele Widersprüche der indischen Gesellschaft vorzudringen, nicht immer gelingt das als harmonischer Fluss. Konsequent bleibt Bahrani aber im zentralen Anliegen: mit Witz und Lust an der Übersteigerung zu arbeiten, ohne Ungleichheiten einzuebnen. (Dominik Kamalzadeh, 22.1.2021)