Beim Virensequenzieren in einem Labor im dänischen Aalborg. Dänemark hat als eines der wenigen Länder in Europa einen guten Überblick über die noch langsame Ausbreitung von B.1.1.7.

Bekannt ist die Mutante B.1.1.7 bereits seit mehr als vier Monaten. Sie wurde am 20. September in der südenglischen Grafschaft Kent durch das britische Coronavirus-Genom-Konsortium entdeckt. Inzwischen hat sich das Virus in fast allen britischen Kommunen und vor allem in 57 weiteren Ländern ausgebreitet – doch wie sehr, das ist aktuell eine der großen Fragen.

Vervielfachung der Infektionen und Toten

Die Mutante B.1.1.7 verursacht zwar offensichtlich keine schwereren Erkrankungen, doch sie ist nach einer neuen, noch nicht fachbegutachteten Studie vermutlich "nur" rund 35 Prozent ansteckender als bisherige Varianten. Das ist zum Glück weniger als die zunächst befürchteten 70 Prozent, aber schlimm genug: In einem Monat führt das nämlich in etwa zu einer Verfünf- oder Versechsfachung der Zahl der Infizierten. Neue Aufschlüsse liefert dieser Studie auch über die Viruslast, die doch nicht viel größer sein dürfte, als ursprünglich angenommen.

Was auch für eine um 35 Prozent erhöhe Ansteckungsrate bedeutet, zeigte sich in den letzten Wochen in Großbritannien: Bereits diese um 35 Prozent höhere Ansteckungsrate hat dort zu einem massiven Anstieg der Fälle geführt, der das britische Gesundheitssystem an seine Grenzen gebracht und dort auch aktuell zur weltweit höchsten Rate an Corona-Toten geführt hat.

Portugal als mögliches Fallbeispiel

Dieses Szenario könnte sich in den nächsten Wochen und Monaten in etlichen Ländern wiederholen. So deutet dieser Tage in Portugal einiges darauf hin. Dort dürften nach vorläufigen Schätzungen etwa 20 Prozent aller neuen Infektionsfälle auf diese Variante zurückgehen, so Gesundheitsministerin Marta Temido. Der Anteil könne bereits nächste Woche auf 60 Prozent steigen. Das nationale Gesundheitssystem sei bereits jetzt am Rande des Zusammenbruchs. Es mangelt an Betten für die Intensivpflege und an Pflegepersonal, um die Covid-19-Patienten und Patientinnen zu versorgen.

Am Mittwoch hatten sowohl die täglich gemeldeten Neuinfektionen als auch die Zahl der Todesfälle einen Höchststand erreicht. Fast 14.700 Ansteckungsfälle wurden binnen 24 Stunden gemeldet, das ist ein Anstieg gegenüber dem Vortag um 40 Prozent. Zudem wurden 219 weitere Todesfälle in Zusammenhang mit dem Virus registriert, auch das ein Höchstwert. Immerhin gibt es auch Hoffnung: In Großbritannien haben die am 5. Jänner verhängten, noch härteren Lockdown-Maßnahmen nun doch Effekte gezeigt, und die Infektionszahlen sanken in den vergangenen Tagen wieder.

Wissenschaftliche Warnungen

Internationale und heimische Experten warnen dennoch eindringlich davor, es gar nicht so weit wie in Großbritannien oder Portugal kommen zu lassen. Zu diesen Warnern zählt auch einmal mehr Christian Drosten. Der deutsche Virologe sagte diese Woche in seinem NRD-Podcast: "Wir müssen jetzt was machen, wenn wir speziell das Aufkeimen der Mutante in Deutschland noch beeinflussen wollen. Später kann man das nicht mehr gutmachen, dann ist es zu spät." Drosten sieht jetzt ein Zeitfenster, um die Ausbreitung hierzulande im Keim zu ersticken.

Aber es sind nicht nur einzelne Stimmen: Angesichts der zu befürchtenden Entwicklungen fordert am Donnerstag auch eine Gruppe europäischer Wissenschafter einen übergreifenden Eindämmungsplan für den Kontinent wegen B.1.1.7. Und auch die österreichischen Koautoren des Appells, der im Fachblatt "The Lancet" erschien, warnten am Donnerstag in einer Video-Pressekonferenz insbesondere davor, dass der Anstieg dieser Variante zu Beginn leicht übersehen werden könnte. Wenn sie sich erst einmal voll ausgebreitet hat, seien Gegenmaßnahmen umso schwieriger.

Wenig Wissen über die Varianten

Mitentscheidend sei, wie hoch die Verbreitung hierzulande und in Kontinentaleuropa schon ist, so Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Medizinischen Universität Wien, "denn davon hängt stark ab, wann Effekte in den Infektionszahlen zu erwarten sind." Doch diesbezüglich weiß man in den meisten Ländern relativ wenig, weil – mit Ausnahme von Großbritannien, Dänemark oder Island – bisher nur wenige Viren sequenziert werden, um Aufschlüsse über die Verbreitung der Mutanten zu haben.

Europaweit brauche es aber auch klare Ziele, welche Neuinfektionszahlen man erreichen sollte, so die österreichischen Koautoren des Lancet -Aufrufs, zu denen neben Klimek auch Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) und Politikwissenschafterin Barbara Prainsack (Uni Wien) gehören. Die Wissenschafter sprachen sich für die mittlerweile breiter akzeptierte Sieben-Tage-Inzidenz von 50 aus (50 Neuansteckungen pro 100.000 Bewohner und Woche). Bei diesem Wert sei davon auszugehen, dass die Kontaktnachverfolgung greifen könne und die bekannten Maßnahmen insgesamt deutlich besser wirken, wie Analysen zeigen würden.

Verringertes Befolgen der Vorschriften

Nicht vergessen dürfe man bei alldem, dass es viele gesellschaftliche Gruppen gibt, die sich zum Beispiel beruflich oder aus familiärer Sicht einen Lockdown gar nicht mehr erlauben könnten, wie die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack betont. Man dürfe nicht nur "mangelnde Compliance kritisieren", es brauche vielmehr größere Anstrengungen, um die Lasten der Krise gerechter zu verteilen.

Umfragen, die Prainsack und ihre Kollegen regelmäßig im Rahmen ihres "Corona-Panels" machen, würden aktuell zeigen, dass immer mehr Menschen nicht aus böser Absicht die Covid-19-Maßnahmen umgehen – viele würden es einfach psychisch und wirtschaftlich nicht mehr schaffen, sich daran zu halten. (Klaus Taschwer, 22.1.2021)