"Ich musste damit leben, keiner sprach darüber": Esther Safran Foer.

Foto: Laura Ashbrook Photography

Die sogenannte "second generation", die Kinder der Überlebenden des Holocaust, hat eine Reihe von Autoren und Autorinnen hervorgebracht, die Teil des internationalen literarischen Kanons geworden sind – darunter Art Spiegelman mit seinem berühmten Cartoon Maus, Eva Hoffman, Helen Epstein, Elizabeth Rosner oder, in Österreich, Robert Schindel.

Ihre reichhaltige, in vielen Genres und Sprachen erschienene Produktion konvergiert in dem Punkt der Betroffenheit und des Leidens an einer Katastrophe, die sie selbst nicht unmittelbar erlebt haben. Häufig in verwüsteten Landschaften der Nachkriegszeit aufgewachsen, verweigerten sich ihre Eltern, die überlebenden Opfer, dem Gespräch mit ihren Kindern, in der Hoffnung, durch einen festen Blick in die Zukunft ihre Nachkommen, aber auch sich selbst zu schützen.

Die Nachkommen jedoch erlebten, was sie nicht erlebt hatten und worüber häufig geschwiegen wurde, als Enigma, Geheimnis, ja, in den Worten von Eva Hoffman, aufgrund ihres Alters sogar als Märchen. Es gab auch gar keine Sprache für dieses Phänomen. Es war "im Krieg" geschehen, der eine Katastrophe darstellte, die, so der gesamtgesellschaftliche Konsens, hinter sich gebracht werden musste.

Experimentelle Literatur

Erst nachdem das gesamtgesellschaftliche Gespräch zum Holocaust begonnen hatte, waren viele Angehörige dieser Generation bereit und in der Lage, ihre diffusen Kindheitserfahrungen neu zu sortieren und literarisch zu verarbeiten. Es waren häufig Narrative der Krise, fragmentiert, mit Brüchen und Löchern; eine experimentelle Literatur, geboren aus einem Experiment mit sich selbst.

Esther Safran Foer, geboren 1946 in Łódź, ist – als Autorin – ein spätes, aber durchaus charakteristisches Beispiel dieser Generation. Ihre Eltern, Ethel und Leibel ("der Löwe"), waren beide jeweils die einzigen Überlebenden ihrer Familie. Belastet mit dem Freitod ihres Vaters, den sie 1954 als Kind erlebte, begann sie in den 80er-Jahren, Dokumente ihres Lebens zu sammeln.

Umfangreiches Netzwerk

Davon beeindruckt, entschloss sich ihr Sohn, der bekannte US-amerikanische Romancier Jonathan Safran Foer, zu einer Reise in die Herkunftsregion seiner Eltern in der Ukraine. Zwar fand er wenig; sein Romanerstling, Alles ist erleuchtet, der 2002 erschien und 2005 verfilmt wurde, ist jedoch ein bemerkenswerter imaginativer Versuch, Licht in die Vergangenheit zu bringen, unternommen nun bereits von der "third generation".

Der Ertrag für die bislang noch nicht literarisch aktive Mutter, die eine sehr erfolgreiche Karriere als Leiterin einer jüdischen Kultureinrichtung in Washington hinter sich hat, war ein umfangreiches Netzwerk von Betroffenen, die sich nach dem Roman ihres Sohnes und der Verfilmung bei ihr meldeten.

In ihrem eigenen Buch geht es vor allem um die Suche nach Menschen und Dingen aus dem jüdischen Schtetl ihres Vaters Trachimbrod (Trochenbrod) im Nordwesten der heutigen Ukraine sowie den Versuch, den von den Nazis gänzlich ausgerotteten Ort literarisch zum Leben zu erwecken.

Produktive Obsession

Diese Suche ist das Ergebnis einer höchst produktiven Obsession. Die, nach Selbsteinschätzung, "aggressive Sammlerin" hat in den Weiten der Ukraine und einer Reihe anderer Länder (u. a. Israel und Brasilien), insbesondere aber auch im Internet (das Buch zelebriert, ohne das zu erwähnen, indirekt auch die Möglichkeiten elektronischer Suchmaschinen) Menschen und Dinge gefunden, die bei der Rekonstruktion eines Ortes helfen, der sich heute als Feld präsentiert und seine blühende Vergangenheit niemals freiwillig preisgeben würde.

Insbesondere fällt die Faszination und gleichzeitig quasi-wissenschaftliche Akribie auf, mit der Esther Safran Foer materielle Zeugnisse in Plastikbeutel ("Ziploc") und kleine Gläser einschließt, um sie später in Washington, D.C., in ihre Sammlung einzuordnen.

Wenn auch die Suche dominiert, so wartet dieses autobiografische Werk schlussendlich mit einem ganz großen Fund auf. Ihr Vater, der durch Zufall Überlebende, war während des Kriegs von einer ukrainischen Bauernfamilie, die dafür ihr kollektives Leben wagte, versteckt worden.

Nicht nur gelang es ihr, die Nachkommen dieser Familie zu finden. In den meist wenig ergiebigen Gesprächen mit ihrer Mutter war dieser einmal entrutscht, dass Vater Leibel bereits in der Ukraine Frau und Tochter gehabt hatte, die bei der Vernichtungsaktion ermordet worden waren.

Unermüdliche Sucherin

Diese spärliche Information wurde durch die Nachforschungen in der Ukraine bestätigt, und die unermüdliche Sucherin erfuhr endlich den Namen ihrer Halbschwester, Asya, und konnte sie in die von Yad Vashem geführte Liste der Holocaust-Opfer eintragen und damit der Vergessenheit entreißen. Asya ist eine Kurzform von Anastasia, übersetzt "jene, die wiedererstehen wird".

Das Buch, und auch sein Titel, ist Esther Safran Foers Enkelkindern und deren Nachkommen gewidmet und stellt eine Kontinuität zwischen den Opfern der Vergangenheit und den Nachkommen der Überlebenden her.

In seiner exzellenten deutschsprachigen Übersetzung ist es vor allem eine Aufforderung zum Dialog. Denn auch die "second", "third" und "fourth generations" in Deutschland und Österreich sind Teil einer gebrochenen Geschichte, die man zwar nicht heilen, aber ansprechen und für alle produktiv machen kann.

STANDARD: Sie haben Jahre damit verbracht, der Geschichte Ihrer Familie in der Ukraine nachzuspüren. Was haben Sie sich davon erhofft?

Esther Safran Foer: Bei uns gab es viele Familiengeheimnisse. Ich wünschte, ich hätte mit meiner Mutter über Dinge gesprochen, die "verboten" waren. Wir hätten eine andere Beziehung gehabt, wenn wir offener gewesen wären. Natürlich hat sie mich beschützen wollen, aber sie wollte auch sich selbst schützen. Der Selbstmord meines Vaters, als ich acht Jahre alt war, war der schwierigste Teil für mich. Ich musste damit leben, niemand sprach darüber.
Durch meine Recherche und mein Buch konnte ich mich mir selbst gegenüber und auch gegenüber der Welt öffnen. Das bewirkte eine tiefgreifende Veränderung in mir. Emotionen nachzuspüren, mit denen ich mich die meiste Zeit meines Lebens nicht befasst hatte, war befreiend. Hinterher war ich ein anderer Mensch.

STANDARD: Sie sind ein Teil der sogenannten "second generation", geboren 1946, also ein Kind von Holocaust-Opfern. Ihre Eltern waren die Einzigen ihrer jeweiligen Familien, die überlebt hatten. Ist das Teil Ihrer Identität?

Foer: Ja, es gibt Leser dieses Buchs, die mich als Teil dieser Gruppe ansprechen, und das heißt wohl, ich bin ein Teil davon. Für meine Söhne und Enkelkinder ist das Überleben meiner Mutter wichtiger; sie sehen in ihr eine Heldin. Aber die Übertragung von einer Generation auf die nächste ist bedeutsam.
Meine Mutter war die klassische Überlebende, stark und resilient, und das hat sie an mich weitergegeben. Gleichzeitig habe ich auch das Trauma geerbt, mit dem ich aber zu leben gelernt habe. Als ich nach Kołki kam, ins Schtetl meiner Mutter, schien es mir, als hätte ich schon einmal dort gelebt.
Und wenn ich mir meine Söhne ansehe, auf die ich sehr stolz bin: Alle wenden sie sich Dingen zu, die sehr wichtig sind. Sie laufen nicht allein dem Erfolg nach. Das könnte unsere Hoffnung für die dritte Generation sein, dass sie nach Wegen sucht, diese Welt besser zu machen.

STANDARD: In Ihrem Buch hat die Suche eine zentrale Bedeutung. In Ihrer Wohnung stehen Gläser mit Erde aus der Ukraine, darunter von den Orten, wo die Opfer aus Ihrer Familie begraben sein könnten. Sie sammeln Gegenstände, alles, was mit deren Herkunft zu tun haben könnte. Wie erklären Sie Ihre Sammelleidenschaft?

Foer: Ja, diese Suche war ein echtes Abenteuer. Und sie fand genau zur richtigen Zeit statt. Wichtige Menschen, die ich befragen konnte, waren noch am Leben; das wäre heute nicht mehr möglich. Andererseits stand auch schon das Internet als Ressource zur Verfügung. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, erinnerte mich an etwas, das mir meine Mutter erzählt hatte, und setzte mich an den Computer.
Dass ich letztlich die Nachkommen der ukrainischen Familie fand, die meinen Vater versteckt und ihm das Leben gerettet hatte, hat mich sehr erleichtert. Wenn ich etwas Reales in der Hand halte, so schafft das eine Beziehung. Das ist schon irgendwie mystisch. Ich kann es berühren und fühlen, und es ist bei mir. Und wenn ich diese Realien in Gläsern und Plastikbeuteln aufbewahre, so bleiben sie getrennt. Das ist keine vermischte Erinnerung.

STANDARD: Sind Sie froh, dass Ihr Buch nun fürdeutschsprachige Leser zugänglich ist?

Foer: Das Buch erscheint ja in einer Reihe von Sprachen. Wir hatten Lesereisen in die ganze Welt organisiert – und dann kam Corona. Was Deutschland anbetrifft, wuchs ich in einer Schwarz-Weiß-Situation auf. Es gab kein Grau. Meine Mutter fand es auch schrecklich, dass ich für meine Recherchen in die Ukraine reiste.
Als ich aufwuchs, misstraute man Deutschland – man hätte nie ein deutsches Auto gekauft. Aber die Deutschen und Österreicher versuchen, mit ihrer Vergangenheit fertig zu werden, so wie ich mit meiner. Die waren genauso Opfer der Geschichte ihrer Eltern. Mein Buch soll zum Dialog zwischen Juden und Österreichern und Deutschen beitragen. Gerade zwischen den nachfolgenden Generationen sollte es eine Möglichkeit des Austausches geben.

STANDARD: Sie waren 1972 im Presseteam des damaligen demokratischen Präsidentschaftskandidaten George McGovern, der allerdings gegen Richard Nixon hoch verlor. Hat Ihre Herkunft als Tochter zweier Holocaust-Überlebender Sie auch politisch beeinflusst?

Foer: Ich wurde zum Handeln erzogen. Wenn ich Nachrichten sehe, möchte ich manchmal am liebsten gleich aufspringen und etwas unternehmen. Überall auf der Welt gibt es Genozide. Der Holocaust legt uns eine Verantwortung auf. Wir, die wissen, was passiert ist – und das schließt die Seite der Opfer wie auch der Täter ein –, haben eine Verantwortung für die Zukunft. (Interview und Text: Walter Grünzweig, 24.1.2021)