Im deutschen Sprachraum war die Einimpfung oder "Inokulation" der Pocken schon in den 1730er-Jahren in Hannover durch englische Ärzte in den Methodenkanon der akademischen Medizin eingeführt worden. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheint sie aber nur wenig verbreitet worden zu sein. Der erste Impfversuch in Berlin scheiterte spektakulär: Nach dem Vorbild der Lady Montague wollte ein preußischer Minister zwei seiner Kinder impfen lassen, doch beide starben. Die ersten Erfahrungen mit der Einimpfung hatten gezeigt: Sie konnte zwar schützen, war aber dennoch gefährlich. In ganz Europa begann in diesen Jahren der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern dieser Technik, die weit davon entfernt war, ausgereift zu sein.

"Dem Schöpfer müssen wir uns anvertrauen"

Ärzte und Heilkundige standen im 18. Jahrhundert der schnell verlaufenden Blatternerkrankung hilflos gegenüber. 1750 hatte der legendäre Berater Maria Theresias und hervorragende Arzt Gerard van Swieten geschrieben, dass das Blatterngift von keinem Sinn begriffen werden könne und dass es das Göttliche an diesen Krankheiten sei, dass es alle Bemühungen ärztlicher Kunst vernichte. Wo ein Eingreifen nicht möglich schien, war der göttliche Wille eine logische Erklärung, die den Vorwurf des Versagens von der Medizin nahm. Die Heilkunst ließ dem Glauben auch in der Therapie den Vortritt. So schickte Maria Theresia ihren an Blattern erkrankten Töchtern Marianna und Josepha im April 1757 geweihte Kerzen, die man unter das Kopfkissen legen konnte. Ihr Leibarzt van Swieten, der zu den Skeptikern aller therapeutischen und prophylaktischen Versuche zählte, wird diesen Trost im Glauben wohl auch unterstützt haben.

Auch die Menschen ergaben sich ihrem Schicksal. Die erste Frau Josephs II. war an den Pocken gestorben, auch seine zweite Ehefrau musste sich mit dieser Gefahr auseinandersetzen. Sie schrieb 1765: "Wenn Gott mich haben will – ich bin in seiner Hand, er wird so oder so über mich verfügen, wie es ihm gefällt. Weder die Kaiserin noch ich haben sie gehabt, und ich kenne eine Menge Leute, die ohne Blattern gestorben sind, und andere, die sie im hohen Alter noch überstanden haben. Dem Schöpfer müssen wir uns anvertrauen; es liegt an ihm, unsere Todesart zu bestimmen; wenn ich in seiner Gnade bin, ist mir alles andere gleich." Gott wollte auch sie haben: 1767 erkrankte sie an den Blattern und starb nach wenigen Wochen. Diesmal ergriff die Krankheit auch Maria Theresia, die sie jedoch schwer gezeichnet überstand. Van Swieten schickte in diesen Tagen einen seiner Schützlinge an ihr Krankenbett. Der junge Anton von Störck (1731–1803) wurde zum behandelnden Arzt bestellt und gewann ihr Vertrauen.

Versuchsstation Waisenhaus

Die Begegnung Maria Theresias mit Störck brachte den entscheidenden Umschwung. Schon in den 1750er-Jahren hatten unter seiner Aufsicht Impfversuche in Wiener Krankenhäusern stattgefunden, die im Unterschied zu den Versuchen in Berlin glücklich verliefen. Störck erzählte der Kaiserin von seinen Erfahrungen. Durch den Gesandten am Englischen Hof wurden Gutachten und Impfverzeichnisse eingeholt, die alle so günstig von der Impfung sprachen, dass Maria Theresia den Arzt Jan Ingenhousz (1730–1799), der zuvor die britische Königsfamilie geimpft hatte, aus England nach Wien holte. Vor den Augen der Kaiserin trat Anton Störck, der selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen war, den letzten Beweis an. "Ungeachtet der unverschämten Lügen, welche Schmähsucht und Vorurtheil auszustreuen suchten", wie es damals hieß, ließ man zur Probe im Frühjahr 1768 mindestens 100 Kinder eines Waisenhauses in Wien impfen. Der Versuch, der uns heute angesichts der Wehrlosigkeit der Waisenkinder ethisch zweifelhaft erscheinen mag, verlief erfolgreich: Maria Theresia war überzeugt und ließ im September 1768 zwei ihrer Kinder und die einzige Tochter Kaiser Josephs II. inokulieren. Im Oktober und November 1770 veranlasste sie, dass beim Waisenhaus auf dem Rennweg in Wien ein "Inoculationshaus" eingerichtet wurde, in dem die Impfungen kostenlos vorgenommen wurden.

Tag 16 nach der Inokulation der Pocken und Kuhpocken. Genau verzeichneten die Impfärzte das Auftreten der charakteristischen Pusteln, um den Ausbruch der Krankheit und damit den Erfolg der Impfung zu dokumentieren.
Foto: public domain/wellcome trust

Die Frage des Anton de Haen

Nicht alle waren von der Erfolgen der Einimpfung überzeugt. Einer der schärfsten Gegner der Impfung saß mit dem ausgezeichneten Lehrer und Arzt Anton de Haen (1704–1776) ebenfalls in Wien. De Haen war kein dumpfer Gegner jeglicher Neuerung; in der Geschichte der europäischen Medizin gilt er als Pionier der Temperaturmessung in der Medizin. Dennoch lehnte er die Einimpfung aus voller Überzeugung ab. In seinen Debatten mit anderen Ärzten hatte er zunächst versucht, die Gefährlichkeit der Einimpfung der Blattern mit statistischen Mitteln zu beweisen. Als dies nicht überzeugend genug gelang – immerhin wurden nachweislich mehr Menschen durch die Variolation geschützt, als an ihr starben –, stellte de Haen ein theologisches Argument in das Zentrum seiner Gegnerschaft. 1757 stellte er die Frage, ob es einem Menschen überhaupt erlaubt sei, ein das Risiko des Todes einzugehen, um sein Leben zu schützen. Die Antwort auf die Frage gab sich de Haen selbst: "Von den Menschen hat niemand irgendein Recht auf sein eigenes Leben; und niemand hat so sehr ein Recht, sein Leben in klar ersichtliche Gefahr zu begeben. Die Inoculation bringt den Menschen in eine solche Gefahr. Also ist sie nicht zulässig."

Der bekannte Arzt Anton de Haen – ein vehementer Gegner der Einimpfung.
Foto: Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)

Das geringere Übel

Verhindern konnte de Haen die Durchsetzung der Impfprophylaxe mit diesem Argument zwar nicht, doch der Weg dahin war steinig, denn die "Inokulation" war tatsächlich nur so etwas wie das geringere Übel. Immer wieder starben Menschen an den Impfungen, wie die Gegner der Einimpfung stets zu betonen wussten. Die Impfung mit den Kindsblattern brachte unter diesen Umständen den impfenden Arzt an die Grenzen des Erträglichen. Während es in manchen Jahren nur einer von 400 war, der der Impfung zum Opfer fiel, war es in anderen Jahren bis zu eine von 18 Personen. Der Arzt und Medizinalreformer Pascal Joseph Ferro fasste diese unerträgliche Position des Mediziners 1802 in Worte: "Nun ist aber der Tod eines Kindes nie schmerzlicher, als wenn man sich als Urheber desselben denkt. Ich habe diese traurige Szene gesehen, habe den grenzenlosen Jammer der Aeltern, die Angst und Betäubung des Arztes bey dem Anblicke eines Kindes, das noch vor wenigen Tagen gesund und munter war, und durch die Impfung ein Opfer des Todes wurde, gesehen. Eine traurigere Lage für Aeltern und für einen Arzt kenne ich nicht." Als diese Worte Ferros gedruckt erschienen, war jedoch ein revolutionärer Durchbruch in Sicht. (Marcel Chahrour, 27.1.2021)

Fortsetzung folgt.